Das bemalte Denkmal für den ehemaligen Wiener Bürgermeister Karl Lueger
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Lueger-Denkmal

Faktensuche in emotionaler Debatte

Mit den Denkmalstürzen im Rahmen der „Black Lives Matter“-Bewegung ist letztes Jahr auch die Debatte über das Karl-Lueger-Denkmal am Wiener Stubenring neu entbrannt. Wiens ehemaliger Bürgermeister (1897–1910) gilt unumstritten als prononcierter Antisemit. Im Wiener mumok soll nun ein hochkarätig besetztes Kolloquium die Frage einer zukünftigen Gestaltung vorantreiben. Die Debatte brauche „Fakten und erst danach Meinungen“, so der Gastgeber und stellvertretende mumok-Direktor Rainer Fuchs im ORF.at-Gespräch.

„Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler“, dieses Musil’sche Diktum trifft aktuell nicht auf das 20 Meter hohe Lueger-Denkmal am Wiener Stubentor zu: Seit Juli 2020 ist das 1926 enthüllte Standbild von Josef Müllner mit „Schande“-Tags besprayt. Was immer man von der Ästhetik halten mag: Die Intervention hat das Denkmal zum diskussionsanregenden Blickfang gemacht – und wohl auch zum Signal an die Stadt, dass Handlungsbedarf in Richtung einer tragfähigeren Lösung besteht.

Ein Schritt dahin soll nun am Sonntag erfolgen, wenn das mumok zum ganztägigen, gleich elfstündigen Kolloquium „Marmor, Bronze, Verantwortung“ einlädt. Beteiligt sind unter anderem der Schriftsteller Edmund de Waal („Der Hase mit den Bernsteinaugen“), Kultusgemeinde-Ehrenpräsident Ariel Muzicant, Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, die designierte Direktorin des Jüdischen Museums, Barbara Staudinger, und die beiden Wiener Kunstunirektoren, Johan F. Hartle und Gerald Bast.

Karl Lueger im Rathaus
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Der christlichsoziale Bürgermeister Lueger machte Wien zur modernen Stadt – und war Vorreiter eines antisemitischen Populismus

Lange Debatte ohne Lösung

Angeregt werden solle „eine Versachlichung der Debatte“ und nicht zuletzt „eine Beschleunigung“, so Fuchs dazu – zumal die Auseinandersetzung, wie mit dem fragwürdig gewordenen Denkmal umzugehen ist, tatsächlich schon lange währt: Gar von einem „Spezifikum Wiens“ spricht die schwedische Kunsthistorikerin Tanja Schult, dass diese Diskussion ganz ohne Entscheidung schon so lange am Laufen ist.

Schult forscht aktuell in Wien zu „demokratischen Denkmälern“ und wird am Sonntag zur Frage des „Gegendenkmals“ diskutieren: Einen ersten Vorschlag in diese Richtung gab es bereits 2009, als die Universität für Angewandte Kunst einen inoffiziellen Wettbewerb zur Umgestaltung ausrief. Das nicht realisierte Gewinnerprojekt von Klemens Wihlidals sah eine Kippung der Büste um 3,5 Grad vor.

„Schandwache“ vor dem Lueger-Denkmal 2020
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Mit ihrer Intervention und einer „Schandwache“ im Juli 2020 entfachte eine Künstlergruppe erneut die Diskussion um das Lueger-Denkmal

Eine adäquate Intervention, oder doch zu viel oder zu wenig? Diese Fragen spielen auch in der wiederaufgenommenen – inzwischen international geführten – Debatte um das rassistische und antisemitische Erbe eine entscheidende Rolle. Nach der „Schande“-Invention 2020 gab es unzählige Diskussionsbeiträge und, als letztes größeres Event, im Mai einen runden Tisch auf Initiative von Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, bei dem 30 Vertreter aus Kultur und Politik zusammengeholt wurden.

Ist Entfernung Geschichtsauslöschung?

Überraschend „emotionsgeladen“ sei die Diskussion damals gewesen, „mit einer Gegensätzlichkeit der Positionen, die ihn doch erstaunt“ habe, so der teilnehmende stellvertretende mumok-Direktor Fuchs dazu. Während es weitgehend Einigkeit über das Faktum des Antisemitismus Luegers und einen grundsätzlichen Handlungsbedarf gab, war vor allem die Frage des „Wie“ der springende Punkt: Die Vorschläge reichten dabei von einer minimalinvasiven Variante über eine „Weggestaltung“ (Marlene Streeruwitz) bis hin zu einer Entfernung.

Der häufige Einwand zu Letzterem: Die Statue zu entfernen bedeute, Geschichte „auszulöschen“, und käme gar einer „Cancel-Culture“ nahe, würde Geschichte also unsichtbar machen. Die Kunsthistorikerin Schult sieht das nicht so. „Geschichte“ sei nicht mit „materieller Zeichensetzung“ gleichzusetzen. Die Statue sage „vor allem etwas darüber aus, dass 1926 jemand Lueger ehren wollte“. Schult plädiert für das Recht, diese Zeichensetzung nicht anzunehmen, sondern in unserer Zeit eigene Zeichen entgegenzuhalten. Angesichts einer „Übermöblierung der Stadt“ könne nicht einfach weiter akkumuliert werden.

Enthüllung des Lueger-Denkmals 1926
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Das 1926 enthüllte Lueger-Denkmal auf dem Dr.-Karl-Lueger-Platz

Platz als „Stachel im Fleisch“

Aber braucht es den Platz nicht als „Stachel im Fleisch“, zur Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Antisemitismus, wie der Historiker Oliver Rathkolb einmal meinte? Skeptiker gegenüber dieser These bringen vor, dass es sich – zumindest in der jetzigen Form – um ein Ehrendenkmal handelt, also einen Ort der Würdigung, nicht per se einen Ort der Geschichtsvermittlung.

„Ortsgebundenheit ist ja grundsätzlich kein Kriterium der Geschichtsaufarbeitung“, führt Fuchs die Möglichkeit einer besser kontextualisierten Auseinandersetzung an einem anderen Platz an. Für den Kunsthistoriker ist die Entfernung eine der Möglichkeiten neben der künstlerischen Umgestaltung – wobei es, so Fuchs, dafür die grundlegenden Parameter zu klären gilt. Damit die Kunst nicht vor eine unlösbare Aufgabe gestellt werde.

Systematische Aufarbeitung

Warum sich die Debatte so zieht, mag auch damit zu tun haben, dass Lueger nur die Spitze eines Eisbergs problematischer Gedächtniskultur ist. Braucht es eine systematische Aufarbeitung, bevor man Lueger angreift? Eine Hinhaltetaktik, meinen andere zu diesem Argument. Gemunkelt wird, dass auch die Wiener Stadtregierung bremsen könnte, weil damit etwa auch der Judenhass der SPÖ-Ikone Karl Renner oder der Karl-Marx-Hof zum Thema gemacht werden würden.

Veranstaltungshinweis

Das Kolloquium „Marmor. Bronze. Verantwortung.“ findet am Sonntag, 7. November, von 10.15 bis 21.30 Uhr in der mumok-Hofstallung statt. Es gibt einen Livestream.

Aus dem Büro von Kaup-Hasler gibt es aber ganz andere Signale: Hinter den Kulissen wird aktuell etwa an der Klärung der Denkmalschutzbestimmungen und der Abstimmung der unterschiedlichen zuständigen Magistratsabteilungen gearbeitet. Warum speziell Lueger zur Disposition steht, liegt dabei an der – mit eigener Platzbenennung – einzigartigen Würdigung und in seiner historischen Wirkkraft als Spitzenpolitiker, der den Antisemitismus in Wien salonfähig machte und sogar in Hitlers „Mein Kampf“ als einer der „gewaltigsten deutschen Bürgermeister aller Zeiten“ geehrt wurde.

Luegers Verdienste versus „rabiater Antisemitismus“

Und – als weiteres Argument gegen die Umgestaltung – wären da noch Luegers Verdienste, die Hochquellwasserleitungen und die Gas- und Elektrizitätsversorgung. „Wie bei Hitler die Autobahnen. Können sie den rabiaten Antisemitismus aufwiegen? Ist Antisemitismus verzeihlich, also ein Kavaliersdelikt?“, fragte dazu der Historiker Dirk Rupnow, ebenfalls ein Diskutant im mumok, in der „Presse“.

Dass mit dem Lueger-Denkmal konkret ein Antisemit geehrt werde, wie es oft heißt, sei aber eigentlich nicht richtig, so Schult. Das Problem sei vielmehr eine bildliche Auslassung des Antisemitismus, dass dieser „als blinder Fleck“ bleibe. Sieht man sich die Gestaltung an, ist das Denkmal zumindest aus heutiger Perspektive nur bedingt ein Ehrenmal, sondern entlarve, so Schult, „sich selbst“: „Auf der unteren Stufe sieht man arme ausgemergelte, bloßfüßige Arbeiter, die machen die Hauptarbeit. Und oben thront eitel Lueger, der den Glanz der Erfolge allein entgegennimmt“.