Schneekugel mit Riesenrad und Stefansdom
Robert Kalb / picturedesk.com
Österreichs Geschichte

Der Hang zum trügerischen Selbstbild

„In Österreich stand immer schon alles in Frage, nur das, worauf es ankam, nie“, befand der Schriftsteller Hermann Bahr. Und konstatierte zugleich: Wer in diesem Land meine, was er sage, gelte als suspekt und verwegen. Doch die Politik zwischen Franz Josef bis zur jüngsten Vergangenheit suchte immer eines: die Geste der großen, zentralen Steuerung. Und das Aufräumen mit den Umständen. Herausgekommen ist dabei nicht immer das gewünschte Ergebnis. Das könnte auch mit den geglätteten Vorstellungen zu tun haben, die sich Österreich von sich selbst gemacht hat. Zumindest legt das eine große historische Studie nahe, die auch die heimische Politik interessieren könnte.

Die innere Geschichte Österreichs bedürfte dringend einer Psychohistorie, forderte der Historiker Friedrich Heer schon vor vielen Jahrzehnten. Die Zeitgeschichte hat in Österreich sehr an der Aufarbeitung dieses Wunsches von Heer mitgearbeitet – freilich tat man das immer für klar umrissene Zeitbereiche: die Jahrhundertwende, die von Oliver Rathkolb so treffend als „paradoxe“ Zweite Republik bezeichnete Phase – und viel geschah nicht zuletzt auch in der Erforschung der Strukturgeschichte der Ersten Republik. Was aber, so könnte man Bahrs Frage aufgreifen, wenn unter der Geschichte des Landes so etwas wie ein ewiger Grundkonflikt liegt, an dem schon ein Kaiser Franz Josef gescheitert ist wie zuletzt ein junger Bundeskanzler?

Immer wieder, so scheint es, war Österreich geprägt vom Wunsch des zentralen Zugriffs, von der Gestaltung über ein klar definiertes Machtzentrum. Geerntet hat man dabei oft das genaue Gegenteil. Dem Gestaltungsideal folgte der Verweis auf eine Realität, wo die Teile des Herrschaftsgebiets bzw. Landes deutlich selbstständiger reagierten als erwartet. Möglicherweise hat es mit einem doppelten Boden zu tun, auf dem das Geschichtsverständnis und Selbstbild dieses Landes ruht. Einerseits den großen Traum von der verbindenden Einheit und Gestaltungskraft zu zelebrieren. Andererseits aber gerade die direkte Lebensrealität und regionale Identität zum Maß der Gestaltung zu erheben.

Das österreichische Gebrechen

Österreich tut sich offenkundig mit zweierlei schwer: einerseits mit der klaren Definition seiner nationalstaatlichen Identität (zu sehen an den Debatten des 19. Jahrhunderts, wo das vormals zersplitterte Deutschland schneller auf einen grünen Zweig kam). Andererseits mit der Anerkennung in der Vielgestaltigkeit gerade seiner Identitätskonstruktion, die sich nicht auf einen Zentralnenner bringen lässt. Von Robert Musils großer Österreich-Soziologie der Jahrhundertwende im „Mann ohne Eigenschaften“ bis hin zu den Zentraleuropa-Studien eines Moritz Csaky wurde eigentlich der nicht zu vereinheitlichende Charakter Österreichs hinlänglich beschrieben und als eine Stärke ausgewiesen.

Musil tat das sicher ironischer als der Kulturhistoriker. „Sagt man es so: diesen Menschen war alles zugleich Unlust und Lust, so bemerkt man wohl, wie vorweg-heutig es war, denn der sanfteste aller Staaten stürmte in manchem seiner Zeit heimlich voraus“, liest man im „Mann ohne Eigenschaften“. Andererseits bedient sich Politik gerne Vereinheitlichungsformeln. Heute speisen sich diese Formeln zusätzlich aus der Angst vor den Globalisierungsfolgen und nutzen dabei den Rückgriff auf ein genaues, tief verankertes Wissens um den Landescharakter. „Unser Land, unsere Regeln“, war etwa im letzten Landtagswahlkampf zu hören. Das könnte ja auch Vielgestaltigkeit und Offenheit meinen – wurde aber bewusst als Identitätsformel mit klaren Grenzziehungsabsichten konzipiert und auch so gelesen.

Franz Leander Fillafers Buch
Wallstein
Franz Leander Fillafer: Aufklärung habsburgisch. Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750-1850. Wallstein Verlag, 628 Seiten, 56,50 Euro.

Wunsch nach Vereinheitlichungsformeln

Dass Österreich einen starken Hang zu Vereinheitlichungsnarrativen hat, belegt die Forschungsarbeit des an der Akademie der Wissenschaften arbeitenden Historikers Franz Leander Fillafer. Zuletzt erschien sein Werk „Aufklärung habsburgisch. Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750-1850“. Darin wird die Wiederherstellung der Vielfalt historischer Realität und ihrer Wahrnehmung unternommen. Gleich zu Beginn erinnert Fillafer daran, dass die Aufklärung zu sehr in den Dienst einer bestimmten Fortschritts- und Modernitätserzählung genommen wurde.

Zwar ist die internationale Forschung zur Aufklärung der letzten Jahrzehnte deutlich von einem homogenen Bild dieser Epoche abgerückt, dennoch trifft Fillafers Befund die Wahrnehmung der Aufklärung in Österreich doppelt: Einerseits wird der Josephinismus gern als quasi sanfte Harmonisierung von Gottesgnadentum und philosophischer Säkularisierung verklärt. Andererseits stehe, wie Fillafer schreibt, das Habsburger-Reich beinahe klischeehaft als „Gegenentwurf zur modernen Welt“: „Angeblich kamen die Liberalen aus der Aufklärung, während sich die Konservativen gegen Aufklärung und Revolution verschanzten.“

Dass dieses vereinfachende Bild nicht zu halten ist, macht ein Blick auf die Positionskämpfe im Zeitraum vom späten 18. zum frühen 19. Jahrhundert deutlich: Die unterschiedlichen Ab- und Ausgrenzungen liefen quer durch die Milieus hindurch und zeigten ein sehr differenziertes Bild vom Kampf um verschiedene Standpunkte.

Das Glück der Zukunft – Vermählung von Kaiser Franz II. (I.) mit Elisabeth Wilhelmine von Württemberg, Kaiser Joseph II. führt Erzherzog Franz Joseph Karl, dem spätere Kaiser Franz II. (I.) dessen erste Gemahlin Elisabeth Wilhemine von Württemberg zu. Ganz rechts Großherzog Leopold von Toskana, der spätere Kaiser Leopold II., der Vater des Bräutigams. Ganz links, die Mutter der Braut, Friederike Dorothea Sophia von Brandenburg-Schwedt. Kolorierter Kupferstich / Radierung von Quirin Marck nach Zeichnung von Hieronymus Löschenkohl
Löschenkohl, Johann Hieronymus / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com
Das Zeitalter Josephs II. als Zeit großer Ideale. Hier ein Bild zu seiner Vermählung unter dem Titel „Das Glück der Zukunft“.

„Politisch aufgeladene Wunschvergangenheiten“

Man habe, so zeigt der Forscher, gerade im Zeitalter des Vormärz „politisch aufgeladene Wunschvergangenheiten“ gezimmert – die, so scheint es, heute noch unser Bild auf diese Epoche bilden. Die Wahrnehmungen Maria Theresias oder auch der Rolle Joseph II. stammen eigentlich aus einer Zeit vor 1848 und sind heute noch wirkmächtig – so der Eindruck nach der Lektüre dieses 600 Seiten starken Werkes. Die gezimmerten Wunschvergangenheiten, so zeigt das Buch, seien von unterschiedlichen Gruppen, den Liberalen wie den Konservativen und den neuen Befürworter regionaler Identitäten im Vielvölkerstaat, für die eigenen Zwecke instrumentalisiert worden.

Ausgerechnet die auf eine Ideologie von Universalzielen ausgerichtete Ära Josephs II. habe dem Landespatriotismus einen Auftrieb verliehen. Die Landespatrioten lasen die programmatische Schrift „Über die Liebe des Vaterlandes“ von 1771 des österreichischen Chefaufklärers Joseph von Sonnenfels weniger im Sinn des überzeitlichen und „einsprachig codierten Nationalcharakters“, als vielmehr mit Bezug auf die Frage, was denn die Gemeinschaft der Landesbewohner zusammenhielt. Das, was eine entscheidende Spielart des Nationalismus, gerade in sprachpolitischer Hinsicht werden sollte, entsprang eigentlich einer liberalen Haltung, sich gegen einen von oben vorgegebenen Kurs staatspolitischer Vernunft zu stellen.

Joseph von Sonnenfels
Erich Lessing / picturedesk.com
Joseph von Sonnenfels, Aufklärer, Zensor, Berater, Professor und irgendwie auch die Sphinx der österreichischen Aufklärung. Seine Schriften konnte man für den überzeitlich starken Staat, aber auch das Aufkeimen eines neuen landespatriotischen Geistes interpretieren

Vom offenen zum engeren Vaterlandsbegriff

„Die Landespatrioten“, so Fillafer, „schrieben das kulturhistorische Modell der Spätaufklärung fort und gingen von wandelbaren Kulturzuständen aus, die je nach Lebensmilieu der Landbewohner und Gemütsverfassung derselben variierten.“ Im frühen 19. Jahrhundert sei der Vaterlandsbegriff vielgestaltig geblieben, so der Historiker, und erst später vom „sprachlich-nationalen Begriff“ aufgesaugt worden.

Austragungsort dieser Frage wurde die Kultur. Die Sogkraft der landespatriotischen Politisierung von Kultur, man denke hier beispielhaft nur an die Zurichtung des Ottokar-Stoffes im frühen 19. Jahrhundert, erklärt der Historiker aus der dritten politischen Orientierungsoption, die sich daraus ergeben habe, „jenseits einer ständischen Adelsnation und der revolutionären Volkssouveränität“.

Ottokars Sohn Wenzel bittet Rudof von Habsburg um die Aushändigung des Leichnams seines Vaters. Gemälde von Anton Petter 1826
Nemeth / akg-images / picturedesk.com
Der Ottokar-Stoff inspirierte die unterschiedlichsten landespatriotischen Erzählungen im frühen 19. Jahrhundert. Hier bei Anton Petter im Jahr 1826 erbittet Ottokars Sohn Wenzel bei Rudolf von Habsburg die Aushändigung des Leichnams seines Vaters nach der Schlacht bei Dürnkrut.

Hormayr und die Folgen

Ein besonderes Augenmerk fällt bei Fillafer wie schon bei den großen Habsburger-Geschichten der Vergangenheit – man denke nur an die Geschichte Österreichs des katholischen Historikers Hugo Hantsch – auf die Rolle des „Innsbrucker Wunderkindes“ Franz von Hormayr, der ja mit seinem „Archiv für Geografie, Historie, Staats- und Kriegskunst“ die Koexistenz eigenständiger Patriotismen innerhalb der Monarchie, wie sich Fillafer ausdrückt, „akzeptabel machte“ und sich mit einigen seiner Mitautoren geschickt von der „Gleichmacherei und dem wandalischen Banausentum“ des Josephinismus abgrenzte. Das Archiv habe den Aufstieg des Bürgertums als geschichtsmächtige Kraft in den Mittelpunkt gestellt – und sich entsprechend an einen bürgerlichen Adressatenkreis mit der Aufbereitung von Kulturgeschichte gerichtet.

Hormayr-Hartenburg, Josef Freiherr
ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com
Joseph von Hornmayr inspirierte nicht nur den Tiroler Freiheitskampf 1809. Er machte den Landespatriotismus für bürgerliche Kreise akzeptabel

Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft, das Fillafer aus einer plurikulturellen Textur der habsburgischen Länder heraus präpariert, wird am Ende die Grundlage für die „schleichende Zurichtung der Bürger nach Nationen“. Deutlich wird für ihn darin aber auch, dass die Lagereinteilung wenig dazu beitragen kann, will man den Tiefengrund der Habsburger Monarchie ausleuchten, in dem sich ja alle Gründe für ihren Zerfall verbergen.

Weitere Bücher zum Thema:

  • Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Zsolnay.
  • Pieter M. Judson: Habsburg: Geschichte eines Imperiums. C.H. Beck
  • Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik. Zsolnay.
  • Moritz Csaky: Das Gedächtnis Zentraleuropas: Kulturelle und literarische Projektionen auf eine Region. Böhlau

Das Bild von Ordnung und Stabilität

Deutlich wird aus der Lektüre der unterschiedlichen Kapitel des Buches, mit denen Fillafer mitunter mikroskopisch auf die Geschichte zwischen 1750 und 1850 schaut, welches Gesamtbild Österreich von sich selbst entworfen hat – und wie es sich so etwas wie eine große Stabilität schenken wollte, ohne genauer auf die Ströme und Erosionen schauen zu können, die sich unter einer einheitlich zugerichteten Oberfläche bildeten. Hüterin etwa der sozialen Ordnung im Österreich des Vormärz, so erklärt Fillafer im Kapitel „Allianz von Thron und Altar“, sei die Kirche gewesen.

Geschickt habe man dabei etwa versucht, das Bild der sozialen Ordnung, wie es die Kirche wollte, mit dem Gesellschaftsbild des aufstrebenden Bürgertums zu amalgamieren. „Das Bürgertum blieb dabei ein unbekanntes Wesen“, so Fillafer: „In der Variationsbreite seiner politischen Ideale entzog es sich hartnäckig zeitgenössischen Zuschreibungen: die staatspädagogische Frömmigkeit der Restauration verband Glaube, Patriotismus und Familiensinn, während die liberale Broschürenliteratur des Vormärz das Bürgertum als Trägerschicht des Fortschritts und als ökonomisch-politisches Fundament des Staates beschrieb.“ Hätten die einen Ruhe und Sittlichkeit garantiert, hätten die anderen für sich beansprucht, ökonomischen Fortschritt, Pressefreiheit und staatsbürgerliche Gleichheit herbeigeführt zu haben.

Ein Weg in die Selbsttäuschung?

Der Rückgriff auf Leitbilder, so kann man den Blick von Fillafers Untersuchungszeitraum in Richtung spätere Habsburger-Monarchie lenken (wie zuletzt von Pieter M. Judson brillant bewiesen), führte freilich zu einer österreichischen Selbsttäuschung, die bis in die Gegenwart wirkt. Der Kulturhistoriker Claudio Magris beschrieb das in seinem gleichnamigen Buch als „habsburgischen Mythos“, dem nicht zuletzt eine funktionale Dimension innewohnte.

Im Mythos etwa des Felix Austria habe die Monarchie immer schon „eine Stütze im Kampf gegen die Geschichte“ gesucht, „um den konkreten sozialen und politischen Tatsachen zu entfliehen“, so Magris. Mit dem Februar-Patent von 1861 und der Verfassungsreform 1867 forcierte ja das franzisko-josephinische Österreich für Cisleithanien die Zentralsteuerungsabsichten bei gleichzeitigem Wunsch, neue Regionalgliederungen zuzulassen, von der Neuschaffung der Bundesländer bis hin zur Einrichtung der Bezirke, die damals über das Innenministerium in Wien zentral besetzt wurden.

Geerntet hat man freilich die Einübung von Regionalidentität, die sich unterhalb des Zentralstaatsnarrativs abspielte und am Ende im Moment des Zusammenbruchs politisch tragfähig wurde. Wer in Österreich gerne den Traum des zentralen Handelns träumt, darf sich an Schlüsselmomente gerade zu Beginn der Ersten und Zweiten Republik erinnern. Und kritisch hinterfragen, ob der Anspruch zum Durchgriff politisch umsetzbar ist. Oder mehr einem Narrativ folgt, das am Ende die am meisten glauben, die es selbst geschaffen haben.