Regal mit Büchern
Julia Rotter/Moormann
Bücherregale

Raster der Selbstdarstellung

Zu sperrig, zu unpraktisch, dank des Lebensstils der digitalen Nomaden bald unnötig – vor zehn Jahren hat man dem Bücherregal keine große Zukunft zugerechnet. Spätestens seit die Möbel als Videokonferenzhintergrund und Ausweis für Belesenheit und Expertentum wieder präsent sind, zeigt sich: Das Bücherregal erlebt eine Renaissance in den Wohnzimmern und dient als Präsentationsfläche für die Selbstdarstellung.

Wieder weiße Wände statt meterweise Bücherregale, Befreiung von der Last physischen Besitzes und trotzdem die gesamte Weltliteratur am E-Book-Reader – so stellte man sich um 2010 einen neuen digitalen Minimalismus vor.

Doch so plötzlich die Videokonferenzen im Homeoffice ungeahnte Einblicke in die Privatsphäre so mancher Kolleginnen und Kollegen und Bekannten ermöglicht haben, so rasch hat man gelernt, sich im Kameraausschnitt zu inszenieren. Und da waren sie wieder: die Bücherregale, in denen die Bildbände Kunstsinnigkeit, die historischen Standardwerke umfassende Bildung und die Philosophen-Gesamtausgabe Intellektualität verbürgen.

Die Raster der Regale, sie sind so etwas wie eine Ausstellungsfläche für das eigene Selbst, ein Display, das von den Zeiten der fürstlichen und später der bürgerlichen Repräsentation einen langen Weg in die Durchschnittswohnung genommen hat, auch wenn es inzwischen neben Büchern oft als Rahmung für allerlei Fotos, Nippes und Urlaubsmitbringsel dient.

Mann an Laptop vor Bucherregal
Getty Images/Westend61
„Ich bin, was ich gelesen habe.“ In Zeiten von Videodauerkonferenzen rückt man sich mit Bücherregalen gerne wieder in vorteilhaftes Licht.

Fürsten und Weltensammler

Das moderne Regal, es scheint zwei historische Linien zu kreuzen, die beide vom Zurschaustellungswillen von Fürsten und Herrschern ausgehen. Einerseits die Herrscherbibliothek, wie sie etwa im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek verwirklicht ist: Die schweren Regale in dunklem Nussholz sind von barocken Goldverzierungen umrankt, die gesamte Bibliothek ist um die Statue Kaiser Karls VI. zentriert, der unter dem rund 30 Meter hohen Gewölbe thront.

Das Zielpublikum waren durchreisende Gelehrte und Diplomaten, die so von der Herrlichkeit des Kaisers überzeugt werden sollten. Kleine Schwundstufen dieser großen Geste finden sich bis heute in so mancher bürgerlichen Bibliothek.

Die zweite Traditionslinie, die sich verkleinert an allerhand Objekten ablesen lässt, ist jene der Wunderkammer. Deren Ursprünge liegen in den Studierzimmern der Herrscher während der italienischen Renaissance. Das „studiolo“ diente dabei als Aushängeschild der geistigen Ambitionen des Landesfürsten, der sich dort eingehend „mit historischen, künstlerischen und philosophischen Fragen“ beschäftigte.

So versammelte etwa Francesco de Medici in seinem florentinischen Studierzimmer des 16. Jahrhunderts Bronzefiguren, Malereien, Perlen, Korallen, Muscheln und Bergkristalle ganz selbstverständlich nebeneinander. Alle diese Objekte waren für die Renaissancefürsten genauso Ausdruck der Vielfältigkeit der Schöpfung wie Möglichkeit zur Zurschaustellung der eigenen Macht und des eigenen Reichtums.

Der Panizzistift und das Systemdesign

Während man die Wunderkammern meist als Vorläufer der modernen Museen sieht, leben sie doch auch in den Wohnzimmern der Gegenwart weiter. Ein Grund dafür ist, was die Kulturhistorikerin Petra Eisele als „die eigentliche Neuerung im Möbeldesign des 20. Jahrhunderts“ nennt: das Systemdesign, also die Möglichkeit, Möbel an das individuelle Nutzungsbedürfnis anzupassen – und Platz zu haben, um all das zu rahmen, als das man sich selbst sehen will.

Bei Bücherregalen liegt der Ursprung dieser Neuerung in einer simplen, aber effektiven Erfindung: Der italienische Bibliothekar Antonio Panizzi erfand für die British Library, deren bibliothekarischer Leiter er ab 1856 war, den Panizzi-Stift, einen Metallstift, der Regalbretter in vorgebohrten Löchern in den Seitenwänden hält und somit erstmals die Möglichkeit bot, die Regalböden in der Höhe flexibel zu befestigen.

606 Regalsystem, 1960
Dieter Rams Archiv
Ein Regal für alle Fälle: Dieter Rams’ „606“ wurde seit seiner Markteinführung 1960 ständig erweitert, alle Elemente sind miteinander kompatibel

Die Idee der Modularität machte im 20. Jahrhundert Karriere, ein herausragendes Beispiel ist etwa der wahre Klassiker unter den Möbelentwürfen des als Designer für Braun-Elektrogeräte berühmt gewordenen Dieter Rams: das Regalsystem „606“. Es besteht aus schlichten Seitenprofilen und Regalböden aus eloxiertem Aluminium. Das Regalsystem kann frei hängend an der Wand, aber auch frei stehend montiert werden – eine Möglichkeit, die es zu einer Ikone werden ließ, der man bis heute ständig begegnet.

Archive und Museen nutzen das System genauso wie hippe Start-ups, die das Regal mit Tischelementen zum Laptoparbeitsplatz kombinieren. Das Regal war immer mehr als minimalistische Rahmung für Medien und Elektrogeräte gedacht, ein schlichtes und flexibles Präsentationsobjekt, das den Dingen darin Aufmerksamkeit verschafft, indem es sich selbst weitestgehend zurücknimmt. Der Fokus auf Schlichtheit und Erweiterbarkeit verhalf dem „606“ schnell zu Kultstatus: Bereits vier Jahre nach seiner Markteinführung 1960 wurde es auf der documenta III in Kassel gezeigt.

„Ivar“, „Billy“ und der „Kiefernplunder“

Jenseits dieses gediegenen Entwurfs machte ein deutlich schlichteres Regalmodell im folgenden Jahrzehnt Karriere. Ikeas Kiefernregal „Ivar“ „eroberte die Herzen der jungen Käuferschaft im Sturm, nicht nur, weil es eine preiswerte Alternative zum traditionellen Bücherregal darstellte“, wie Eisele schreibt. Dabei war „Ivar“ die erste Wahl der 68er-WGs und Nokonformisten, denn: „Die archaische Form gab keine bestimmte Nutzung vor.“

Werbung für Ikea-Regal „Ivar“
Ikea
Ein Klassiker im Wandel der Zeit: Ikeas „nonkonformistisches“ „Ivar“ in Kiefer und in einer aktuellen Version

Spätestens ab den 1990er Jahren stand das Bücherregal vermehrt im Zeichen des studentischen großstädtischen Lebens. Wichtig waren dabei laut der Kulturhistorikerin Eisele „ausgewählte Fundstücke vom Flohmarkt, die den Raum im Sinne einer Selbstinszenierung seiner Bewohner ergänzten“. Es schlug die Stunde des bereits 1979 von Gillis Lundgren designten „Billy“, „ein weißes Regal, das sich in einer Art Mimikry-Effekt mit der weißen Wand verband und so den dezenten Hintergrund für die Sammelleidendschaft seiner Besitzer bot“.

Dabei übte sich „Billy“ wieder in vornehmer Zurückhaltung und trat gleichsam „optisch bescheiden hinter das aufregende Leben seiner Benutzer zurück; dennoch gab es den Besitztümern Halt und ein gewisses Maß an Ordnung“. Fans hatte Billy bis in die hohe Politik: Der deutsche Altbundeskanzler Helmut Schmidt machte sich für „Billy“ stark, als der schwedische Konzern es kurzzeitig aus Programm nehmen wollte. „Ohne Billy bleibt ihr auf eurem Kiefernplunder sitzen“, schrieb Schmidt damals in einem offenen Brief.

„Danke, Helmut“, plakatierte Ikea und nahm das Regal wieder ins Programm – wo es bis heute geblieben ist. Aber die goldenen Jahre des schwedischen Bestsellers (über 77 Millionen verkaufte Einheiten) scheinen gezählt, wohl weil das studentische Publikum von damals mit ihm in die Jahre gekommen ist.

Flächennutzung und Selbstentwurf

Wen es selbst in die Richtung Design, Architektur oder Gestaltung zog, der schwört oft noch immer auf einen legendären Entwurf des Berliner Designers Alex Kufus. Sein – streng geometrisches – Regal „FNP“ (für „Flächennutzungsplan“) wird seit mittlerweile über drei Jahrzehnten angeboten und hat vom Hersteller Moormann inzwischen eine ganze Linie von Einsätzen und Zubehör erhalten, die dazu dienen, die Ausstellungsstücke im Regal gekonnt in Szene zu setzen.

Das allerletzte Versprechen in puncto Regaldesign bezeichnete die deutsche Journalistin Marietta Schwarz im Deutschlandfunk Kultur kürzlich als „Phänomen Tylko“, nach dem Hersteller, der Nutzerinnen und Nutzer Regale per App passgenau selbst designen lässt.

Tylko-Regal
Tylko
Rahmung für den Selbstentwurf? Per App selbst konfigurierte Regale liegen im Trend.

Eine logische Konsequenz in Zeiten der Digitalisierung, in der das Regal mit dem Rückgang der analogen Bücher und Musikträger vermehrt zur Rahmung des Selbst wird, wie der Designtheoretiker Florian Arnold es gegenüber dem Deutschlandfunk nannte: „Wenn ich ein Regal für mich erstelle, muss ich einen Entwurf von mir vor Augen haben: Was habe ich? Wer will ich sein? Was werde ich mir anschaffen?“ Das Regal diene dann als „passende Rahmung“ für diesen Selbstentwurf.

Zwischen Repräsentationsflache und Ausstellungsort überlebt das Bücherregal so seinen angekündigten Niedergang – und bietet ganz nebenbei die ideale Hintergrundfolie für die digitale Selbstpräsentation in der Videokonferenz.