Flüchtlinge vor dem polnischen Grenzzaun
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Flüchtlingsstreit

Russland stellt sich hinter Belarus

Im Streit zwischen der EU und Belarus über mutmaßlich gezielt herbeigeführte Flüchtlingsbewegungen eskaliert die Lage zunehmend, von mehreren versuchten Grenzdurchbrüchen ist die Rede. Die Rolle Russlands rückt verstärkt in den Fokus. Bitten, auf den verbündeten Machthaber Alexander Lukaschenko einzuwirken, wurden allerdings vom Kreml abgeschmettert.

Das wirtschaftlich marode Belarus ist stark von Moskau abhängig, nicht nur wegen billiger Energielieferungen, sondern auch weil Lukaschenko sonst weitgehend isoliert dasteht. Und Russland stärkt dem „letzten Diktator Europas“ weiterhin den Rücken. Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte am Mittwoch den russischen Präsidenten Wladimir Putin in einem Telefonat dazu auf, seinen Einfluss auf Lukaschenko geltend zu machen.

„Die Bundeskanzlerin unterstrich, dass die Instrumentalisierung von Migranten gegen die Europäische Union durch das belarussische Regime unmenschlich und vollkommen inakzeptabel sei, und bat den russischen Präsidenten, auf das Regime in Minsk einzuwirken“, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert. Der russische Präsident habe nach deutscher Einschätzung „einen nicht unerheblichen Einfluss in Minsk“, sagte Seibert.

Putin aber entgegnete Merkel, dass die EU-Staaten sich in dem Konflikt direkt an die belarussische Regierung wenden sollten, wie Putins Büro mitteilte.

„Staatlicher Schmuggel und Menschenhandel“

Vor dem Hintergrund der angespannten Flüchtlingssituation an der Grenze zwischen Belarus und Polen hat die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) den russischen Präsidenten Wladimir Putin um ein Eingreifen gebeten. Merkel habe in einem Telefonat mit Putin unterstrichen, „dass die Instrumentalisierung von Migranten gegen die Europäische Union durch das belarussische Regime unmenschlich und vollkommen inakzeptabel sei“, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert. Sie habe den russischen Präsidenten gebeten, „auf das Regime in Minsk einzuwirken“.

Gegenseitige Rückendeckung

Zugleich untermauerte Russland demonstrativ seine Unterstützung für die Führung in Minsk. Am Mittwoch überflogen zwei russische Kampfflieger den belarussischen Luftraum. Das Verteidigungsministerium in Moskau sprach von einem Test der gemeinsamen Flugabwehr beider Länder. Zudem empfing Russlands Außenminister Sergej Lawrow in Moskau seinen belarussischen Amtskollegen Wladimir Makei.

Polnische Soldaten sicher bei Grenzssicherung
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Tausende Menschen harren bei eisigen Temperaturen aus, in der Hoffnung, in die EU zu kommen

Lawrow sagte, dass Minsk und Moskau ihre „Zusammenarbeit wirksam verstärkt haben, um einer von Washington und seinen europäischen Verbündeten in internationalen Organisationen initiierten Kampagne gegen Belarus entgegenzuwirken“. Makei wiederum bedankte sich für die russische Unterstützung, indem er erstmals die von Russland völkerrechtswidrig annektierte Krim „russisch“ nannte. „Wir verstehen in Wirklichkeit, dass die Krim jetzt russisches Territorium ist“, so Makei gegenüber Ria Nowosti.

Appell gegen „hetzerische Rhetorik“

Die UNO verurteilte am Mittwoch die „hetzerische Rhetorik“ beider Streitparteien, Polens und jene von Belarus. Sie sei entsetzt, dass Migranten und Flüchtlinge in verzweifelter Lage bei Temperaturen um den Gefrierpunkt ihrem Schicksal überlassen würden, so die Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet. „Ich beschwöre die beteiligten Länder, umgehend Schritte zu unternehmen, die die Lage deeskalieren und die nicht hinnehmbare Situation lösen“, so Bachelet. Sie rief zudem dazu auf, humanitäre Helfer in die Gebiete vorzulassen, ebenso Anwälte, Journalisten und andere Angehörige der Zivilgesellschaft. Das internationale Recht schreibe vor, dass niemand davon abgehalten werden dürfe, Asyl zu beantragen oder Schutz zu suchen.

Bachelet kritisierte die „stark an der inneren Sicherheit und Politik orientierten“ Reaktionen beider Seiten auf die Krise, einschließlich der verstärkten Stationierung von Soldaten. „In den vergangenen Monaten sind bereits viele Menschen ums Leben gekommen – die Regierungen in der Region können nicht tatenlos zusehen, wie noch mehr Menschen ihr Leben verlieren“, sagte sie. Am Donnerstag will der UNO-Sicherheitsrat zum Thema eine Dringlichkeitssitzung abhalten.

Berichte von versuchten Grenzdurchbrüchen

Im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen sitzen derzeit 2.000 bis 4.000 Geflüchtete, Migrantinnen und Migranten bei eisigen Temperaturen fest. Beide Länder haben Tausende Soldaten in dem Gebiet stationiert. Beobachter befürchten eine Eskalation der Lage. Die EU wirft dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko vor, absichtlich Migranten aus dem Nahen Osten in die EU-Staaten Lettland, Litauen und Polen zu schleusen, um auf diese Weise Vergeltung für Brüsseler Sanktionsbeschlüsse zu üben. Polen und Litauen verhängten den Ausnahmezustand an der Grenze zu Belarus.

Migranten drängen von Weißrussland in die EU

An der polnisch-weißrussischen Grenze drängen Hunderte Migranten teilweise mit Gewalt darauf, in die EU eingelassen zu werden. Deutschlands Kanzlerin Merkel fordert von Russlands Präsident Putin, auf Weißrusslands Präsident Lukaschenko in der Sache einzuwirken.

Polen hatte am Mittwoch die Festnahme von mehr als 50 Migranten gemeldet, denen es gelungen war, die Grenze zu durchbrechen. Die polnischen Behörden berichteten von einer Zunahme der versuchten Grenzübertritte in den vergangenen 24 Stunden. Mehrere Gruppen, die teilweise bis zu 200 Menschen umfassten, hätten in der Nacht zu Mittwoch an drei Stellen in der Provinz Podlaskie versucht, die Grenze zu durchbrechen, sagte eine Sprecherin des Grenzschutzes.

Eine unabhängige Bestätigung der Berichte gibt es bisher nicht. Polen lässt seit Monaten weder Medien noch Hilfsorganisationen in die entsprechenden Grenzgebiete.

Polen ortet „Staatsterror“

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki warf Belarus am Mittwoch Staatsterrorismus vor. Die Ereignisse seien keine Migrationskrise, sondern eine politische Krise mit dem Ziel, die EU zu destabilisieren, so Morawiecki bei einer Pressekonferenz mit EU-Ratschef Charles Michel in Warschau. Es handle sich um eine Manifestation von staatlichem Terrorismus, sagte Morawiecki. Michel rief die Staatengemeinschaft zu Geschlossenheit auf. Diese müsse deutlich machen, mit welchen Mitteln sie das belarussische Vorgehen stoppen wolle.

In der EU herrscht Zwist darüber, ob Zäune an Außengrenzen aus EU-Mitteln bezahlt werden sollen, so wie das etliche Mitgliedsstaaten fordern. Polen, Litauen und Lettland fingen auch bereits an, Hunderte Kilometer Grenzzaun zu errichten. Michel betonte am Mittwoch, dass es aus rechtlicher Sicht möglich sei, „physische Infrastruktur“ zum Grenzschutz aus EU-Mitteln zu finanzieren. Das habe eine Stellungnahme des juristischen Diensts des Europäischen Rats ergeben. Die Entscheidung darüber müsse jedoch die EU-Kommission treffen – und diese lehnt es ab, Grenzzäune aus EU-Mitteln zu bezahlen.

Ein Sprecher der EU-Kommission betonte am Mittwoch, die Position der EU-Kommission sei mit dem Europaparlament abgestimmt. Die EU habe allein zwischen 2014 und 2020 mehr als 1,6 Milliarden Euro in den Grenzschutz investiert – davon sei mehr als die Hälfte direkt an die EU-Staaten gegangen. Österreich unterstützt die Forderung, EU-Gelder dafür bereitzustellen. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) wiederholte am Mittwoch diese Position in einem Gespräch mit der „Welt“.

Aktivisten bei der Organisation von Hilfsgütern
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Hilfsorganisationen versuchen, die Menschen zu versorgen. Angesichts der Temperaturen spitzt sich die Lage zu

Einigung auf Sanktionsregime

Die EU-Staaten einigten sich am Mittwoch aber zumindest auf ein neues Sanktionsinstrument gegen Fluggesellschaften und andere Beteiligte an illegalen Schlepperaktivitäten. Es soll bereits am kommenden Montag bei einem EU-Außenministertreffen formell beschlossen werden. Im nächsten Schritt könnten dann konkrete Strafmaßnahmen verhängt werden. Geplant ist unter anderem, Fluggesellschaften ins Visier zu nehmen, die Migranten aus Afrika oder Asien zur Weiterreise in die EU nach Belarus fliegen. Zudem müssen auch Reiseveranstalter Sanktionen fürchten.

Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte am Mittwoch neue Sanktionen gegen Belarus an. Bei der Situation handle es sich nicht um eine Flüchtlingskrise, sondern um den Versuch des „autoritären Regimes“ in Minsk, Nachbarländer zu destabilisieren.