„Das Europa der 27 ist das Ergebnis einer einzigartigen Versöhnung nach einer einzigartigen Tragödie. Und Berlin, am 9. November, ist seine symbolische Hauptstadt“, sagte EU-Ratspräsident Charles Michel in seiner Rede zur „Lage Europas“ an eben diesem Tag, mehr als drei Jahrzehnte nachdem die Berliner Mauer gefallen ist. Berlin, das sei für Michel jener Ort, „wo der physische Fall der Mauer zum langsamen Abbau mentaler Mauern führte“.
Kurz darauf verkündete er jedoch, dass die Errichtung neuer Mauern sehr wohl zur Rede stehe – wenn auch nicht mehr an Europas inneren, sondern äußeren Grenzen. Im Hinblick auf die belarussischen Attacken habe man die Debatte über die Finanzierung „physischer Grenzinfrastruktur“ an den EU-Außengrenzen eröffnet, so Michel.
Von der Leyen: Kein EU-Geld für Stacheldraht und Zäune
Die Frage, ob die EU für Grenzmauern zahlen solle, spaltet die Staatengemeinschaft. Rückenwind dürfte Michel von rund zwölf EU-Staaten erhalten – unter ihnen auch Österreich. In einem offenen Brief sprachen sie sich Anfang Oktober für den Bau einer Grenzmauer aus. „Physische Barrieren scheinen eine effektive Grenzschutzmaßnahme zu sein, die den Interessen der gesamten EU dient.“ Diese sollten „zusätzlich und angemessen aus dem EU-Budget“ finanziert werden, wie es in dem Brief hieß.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erteilte den Ländern eine Absage. Es sei „sehr klar“, dass es seitens der EU kein Geld geben werde – weder für Mauern noch Stacheldraht. Polen, Litauen und Lettland haben jedoch ungeachtet der Finanzierungsfrage bereits mit verstärktem Grenzschutz reagiert und mit dem Bau von Hunderten Kilometern Grenzzaun begonnen.
Schon jetzt mehr als 1.000 Kilometer Grenzanlagen
Damit sind sie nicht in der EU nicht allein: Ungarn errichte im Zuge der Migrationsbewegung 2015 eine Barriere an der serbischen und kroatischen Grenze, im gleichen Jahr wurden auch Teile der Grenze zwischen Griechenland und Nordmazedonien mit einem Zaun befestigt wie auch in Dänemark, Schweden und Frankreich. Und die Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei ist ebenso gesichert wie jene zwischen der spanischen Stadt Ceuta und Marokko.
Unterschiedlichen Schätzungen zufolge gibt es insgesamt bereits über 1.000 Kilometer, teils meterhohe, Grenzanlagen an den EU-Außengrenzen. Ganz abgesehen von den natürlichen Außengrenzen wie dem Mittelmeer. Teils werden Geflüchtete aber schon davor von Grenzschützern aufgehalten, etwa am Rande der Sahara. Denn Europa lagert, so sind sich Fachleute einig, seine Grenzen immer weiter aus.
Länder bei Migration „sehr viel strenger geworden“
Das zeigt: Die Debatte über Grenzmauern ist alles andere als neu. Im Sommer hat Griechenland die EU um finanzielle Unterstützung für einen Grenzzaun zur Türkei gebeten, 2017 war es Ungarn für einen „Anti-Migranten-Zaun“ zu Serbien. Beide Ansuchen wurden zurückgewiesen. Außerhalb Europas sorgte der damalige US-Präsident Donald Trump 2015 für Aufruhr, als er ankündigte, eine Grenzmauer bauen und Mexiko dafür zahlen lassen zu wollen.
Mit jedem Zaun und jeder Mauer, die gebaut wird, wird der Aufschrei um diese leiser, zeigen sich Fachleute überzeugt. Im Gespräch mit ORF.at sagte etwa Susan Fratzke, Analystin am Migration Policy Centre (MPC) in Brüssel: „Die Länder sind in ihrer Migrationspolitik, also wie sie die Grenzen und Ankünfte der Geflüchteten managen, sehr viel strenger geworden.“ Sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Politik sei die Zustimmung zu harten Grenzschutzmaßnahmen wie Mauern in den vergangenen Jahren stark gestiegen.
Reece Jones, Professor für Geopolitik und Autor zahlreicher Bücher zu Grenzen und Grenzmauern wie „White Borders“ (zu Deutsch: „Weiße Grenzen“) sagte gegenüber ORF.at: „Der derzeitige Trend zu gewaltsamen Grenzen ist Teil eines größeren Wandels.“ Dieser gehe auf die Öffnung der Binnengrenzen zurück, die wiederum auf der Schließung und Verfestigung der Außengrenzen zu Nicht-EU-Nachbarn beruhe. Zudem sei auch die steigenden Migrationszahlen selbst dafür verantwortlich.
Frontex
Die Agentur mit Sitz in Warschau ist für Grenzschutzfragen zuständig, auch wenn das weiter hauptsächlich nationale Aufgabe ist. Frontex unterstützt Mitgliedsländer mit technischer Ausrüstung und Personal. Die Agentur erstellt Risikoanalysen und koordiniert Einsätze und Rückführungsaktionen.
Mauern „extrem teuer und ineffektiv“
Doch wie sinnvoll sind physische Barrieren an der Grenze? „Grenzmauern sind extrem teuer und beim Aufhalten von Migrationsbewegungen nicht besonders effektiv. Wenn sie nicht ständig bewacht werden, sind sie mit einer einfachen Leiter in Sekundenschnelle zu überwinden. Wände werden auch regelmäßig untergraben“, so Reece. Dazu komme, dass Mauern selten an der ganzen Länge einer Grenze errichtet werden.
Ähnlich äußerte sich Fratzke, auch sie stellt zur Debatte, ob Mauern die „richtige Antwort“ sind, handle es sich dabei doch um eine permanente Infrastruktur, deren Bewachung und Erhaltung mit hohen Kosten verbunden sei. Wichtig seien indes Grenzeinsatzkräfte, die für die Kontrolle und Einhaltung von internationalem und EU-Recht sorgen würden – „egal ob Mauer oder nicht“, betonte Fratzke. Doch auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex steht in der Kritik. Sie soll illegale Pushbacks von Geflüchteten durchgeführt haben, so der Vorwurf.
„Mächtigste Rolle als Symbol“
Die mächtigste Rolle, die Mauern spielen würden, sei die eines Symbols, so Reece. Denn Mauern würden das aktive Handeln eines Politikers nicht nur repräsentierten, sondern zugleich auch materialisieren – eben in Form einer realen Beton- oder Stahlwand.
Auch Fratzke meinte: „Mauern sind von Regierungen immer als politisches Instrument verwendet worden. Sie sind etwas ganz Konkretes, auf das Politiker zeigen können und sagen: ‚Schaut, wir tun etwas.‘“

Expertin: Mauer zu Belarus fragwürdig
Gerade im Fall von Belarus scheint eine Mauer Fratzkes Ansicht nach fragwürdig. Schließlich sei das keine natürliche Migrationsroute, sondern eine, die durch eine geopolitische Krise künstlich erzeugt worden sei. Fratzke geht davon aus, dass die Migrationsbewegungen hier folglich nur temporär sein werden.
Im Fall von Belarus wäre es Reece zufolge für die EU eine „viel bessere Lösung“ gewesen, den paar tausend Geflüchteten zu erlauben, die Grenze zu passieren, sie mit Hilfspaketen zu versorgen und ihre Asylansuchen aufzunehmen. „Das hätte sicherlich weniger gekostet als die massive Truppenaufrüstung an der Grenze“, so Reece.
Doch egal ob Polen und Belarus, Griechenland oder Italien, all diese Länder zeigen laut Fratzke, „wie komplex und schwierig es ist, diese vielen unterschiedlichen Migrationssituationen an den internationalen Grenzen zu managen. Einige der Geflüchteten haben Anspruch auf Asyl, andere wiederum nicht.“ Daraus ergebe sich die Frage nach der richtigen Zuordnung.
„Festung Europa“ globaler Trend
Zwar wisse man dank Schengen-Abkommens und Dubliner-Verordnung zwar in der Theorie, was zu tun wäre, das Problem liege allerdings in der Umsetzung in den jeweiligen Nationalstaaten. Idealerweise sollte es einen garantierten Zugang zu fairen Asylverfahren geben sowie schnelle Rückführungen in die Herkunftsländer bei einem negativen Bescheid.
Dennoch gebe es „viele Fragen“ bei der Zukunft der Migrationspolitik. Der Begriff der „Festung Europa“ habe viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, den Trend in Richtung Grenzschließungen gebe es aber nicht nur hier, sondern in der ganzen Welt, so Fratzke. Und: Gerade im Hinblick auf Klimaflüchtlinge könnte sich die Situation in Zukunft laut Fachleuten noch einmal verschärfen.
Reece verweist indes auf eine andere wissenschaftliche These, wonach das politische Modell der Nationalstaaten ohnehin im Auslaufen begriffen sei: Die Missachtung staatlicher Souveränitätsansprüche zur Kontrolle von Migrationsbewegungen könnte ein Vorbote einer globalen Neuordnung politischer Macht sein. Eine, in der Nationalstaatlichkeit durch ein neues System ersetzt werde. Ob mit oder ohne Mauern, bleibt aber auch hier wohl offen.