Kinder mit Maske in einem Klassenzimmer
Getty Images/Halfpoint Images
„Alles sehr verwirrend“

Wie es Kindern in der vierten Welle geht

Lockdown ja oder nein? Präsenzunterricht oder Distance-Learning? Die Verunsicherung, die viele Schülerinnen und Schüler seit über eineinhalb Jahren täglich begleitet, hat nun einen neuen Höhepunkt erreicht. ORF.at hat Kinder und auch Lehrende gefragt, wie es ihnen geht. Die psychische Belastung müsse ernst genommen werden, sagt Schulpsychologe Jürgen Bell: „Klarheit hilft, das Chaos zu verringern.“

„Ab und zu sind Lockdowns okay, aber nicht zu oft und nicht zu lange“ – „Die Verschwörungstheoretiker finde ich blöd, die haben nicht einmal Beweise für ihre Geschichten. Und Corona finde ich prinzipiell superblöd“ – „Der Lockdown ist natürlich wichtig, ich fühle mich aber eingesperrt“ – „Mir geht’s gut. Ich mache mir nicht so Sorgen“ – „Es ist schwierig für die Regierung, alles richtig zu machen, aber ich glaube, man könnte es besser machen“ – „Ich fühle mich okay, aber alles ist sehr verwirrend“.

Das sind einige Antworten von Kindern zwischen acht und zwölf Jahren auf die Frage, wie es ihnen geht. Oft wird dieser Tage über Ängste und Sorgen von Teilen der Bevölkerung, die man ernst nehmen müsse, gesprochen. Die Ängste und Sorgen von Kindern und Jugendlichen, die der permanente Ausnahmezustand einen vergleichsweise viel größeren Teil ihres Lebens begleitet, waren zuletzt dagegen teils in den Hintergrund gerückt.

Kinder sitzen mit Maske in einem Klassenzimmer
Reuters/Leonhard Foeger
Nach einigem Hin und Her findet der Unterricht während des Lockdowns nun doch in den Schulen statt

Verunsicherung und Schuldgefühle

Wenn erst die Impfung da ist, sei „das alles“ vorbei, hörten Kindern und Jugendliche lange. Seit dem Sommer kann nun ein Großteil der Bevölkerung geimpft werden, weil das aber noch immer zu wenige tun, erreichte die Pandemie im November einen neuen Höhepunkt. Sie seien nicht gefährdet, denn die Krankheit beträfe nur Erwachsene, wurde Kindern zudem lange gesagt. Heute liegt die Inzidenz bei den Fünf- bis 14-Jährigen bei über 2.100, und Kinder und Jugendliche erleben täglich, wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler erkranken.

Die Verunsicherung sei groß, berichten Lehrende gegenüber ORF.at. Für viele Kinder sei es auch belastend zu wissen, dass sie ihre Eltern und jüngere Geschwister anstecken könnten. Positiv getestete Kinder hätten oft Schuldgefühle. Für die Sorgen und Ängste der Schülerinnen und Schüler bleibe im Moment zudem viel zu wenig Zeit im Schulalltag.

„Bei allen ist die Luft draußen“

Unverständnis herrschte am Freitag auch über die plötzliche Verkündung des Lockdowns. Denn dieser wurde während des Unterrichts angekündigt, ohne Details an die Schulen bekanntgegeben zu haben. „Das alles wäre nicht notwendig gewesen, nichts davon“, sagt die Lehrerin einer Mittelschule. Bei allen sei mittlerweile „die Luft draußen.“ In Wien sei der Lockdown zudem sehr überraschend gekommen – „damit hat von uns keiner gerechnet“.

Die Jugendlichen seien verunsichert. Vor allem beim Thema Impfung sei „extrem viel Desinformation unterwegs“. Impfkampagnen an den Schulen wären sinnvoll, so die Pädagogin. „Und wie man Oberstufenklassen mit einer Impfquote von über 90 Prozent erklären soll, dass sie wieder zu Hause bleiben müssen, ist mir ein Rätsel.“

„Belastend für alle Beteiligten“

Zu Beginn der Pandemie seien viele Schülerinnen und Schüler seiner mittlerweile vierten Klasse Mittelschule noch froh gewesen, dass sie nicht in die Schule mussten – das habe sich gedreht, erzählt ein Lehrer: „Die meisten Kinder sind jetzt lieber in der Schule.“ Seine Klasse sei leider nur teilweise geimpft, aber alle gehen „vernünftig“ mit den Bestimmungen um.

Die Situation an der Schule sei schon die ganze Zeit „ein Wahnsinn“, die Direktorin sei fast nur mit Pandemiemanagement beschäftigt, so der Pädagoge. „Am Freitag haben die Kinder alles mitgenommen, weil wir dachten, dass auch die Schulen schließen. Die Kommunikation durch das Bildungsministerium hat dann wieder sehr viel Unklarheit reingebracht.“ Der Zustand sei „sehr verwirrend und dadurch auch sehr belastend für alle Beteiligten“.

Politik versus Wissenschaft

„Wenn die Informationen vom Vormittag auch am Nachmittag noch gelten, ist es für alle einfacher“, sagt Jürgen Bell, Psychologe und Leiter der Abteilung Schulpsychologie in der Bildungsdirektion für Wien. „Je stringenter und klarer, je transparenter und nachvollziehbarer Regelungen sind, umso einfacher sind sie zu befolgen und einzuhalten.“ Die Pandemie bringe es aber auch mit sich, dass sich Entscheidungen aufgrund des unterschiedlichen Informationsstandes wieder verändern – „leider oft auch kurzfristig“.

Das Chaos mit Klarheit zu verringern, sei ein essentieller Baustein im Umgang mit der Krise: „Wenn der aktuelle Wissensstand ist, dass die Schulen offen bleiben und der Lockdown bis zu einem bestimmten Datum dauert, dann vermittelt das Klarheit. Gut wäre natürlich, wenn das dann auch eingehalten wird“, so Bell im Gespräch mit ORF.at.

Lehrerin führt Covid-Test bei einer Schülerin durch
Reuters/Leonhard Foeger
Laufend neue Informationen und Regelungen gehören mittlerweile ebenso zum Schulalltag wie das Testen

Warum geimpfte Kinder und Jugendliche jetzt wieder im Lockdown sind, könne man nicht ebenso erklären „wie die physikalischen Gründe, warum das Wasser bei hundert Grad Celsius kocht oder warum eine Brücke eine bestimmte Traglast aushält“. Denn dahinter stünden politische Entscheidungen und keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Und das müsse man auch in der Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen trennen: „Das eine ist Politik, und das andere sind wissenschaftliche Erkenntnisse. Und was wir jetzt erleben, passiert, wenn es divergierende Auffassungen gibt.“

Die eigenen Bedürfnisse nicht vergessen

Wichtig sei jedenfalls, über alles zu sprechen, sagt Bell: „Die Schulen sind jetzt ja doch offen, da ist es wichtig, Gesprächsmöglichkeiten zu schaffen und die Gemeinschaft zu fördern.“ Lehrende und Eltern sollten zudem gerade jetzt Zuversicht zeigen und Interesse für die Gefühle der Kinder und Jugendlichen haben. „Ermutigung, Anerkennung, Verständnis, Halt und Sicherheit – das ist zu Hause und in der Schule wichtig.“

Telefonhotline

Die Abteilung Schulpsychologie der Bildungsdirektion Wien bietet unter 0800/21 13 20 von Montag bis Freitag von 8.00 bis 20.00 Uhr und am Samstag von 8.00 bis 12.00 Uhr kostenlose und vertrauliche Telefonberatung an.

Pädagoginnen und Pädagogen sollten zudem nicht nur auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler achten, sondern auch auf ihre eigenen. Dazu können Entspannungsübungen gehören, vor allem aber auch, „nicht noch dieses und jenes zu machen“. Man müsse nicht immer stark sein und man müsse nicht immer alles perfekt und richtig machen. Bell rät dazu, den kollegialen Austausch noch mehr zu fördern und einander im Team zu unterstützen.

Zudem sollten interne und externe Ressourcen noch gezielter genutzt werden: Psychagoginnen, Vertrauenslehrer, Schülerberaterinnen, Jugendcoaches und Schulärztinnen. Den Schülerinnen und Schülern sollten diese Ressourcen auch aktiv angeboten werden.

„Es wird noch sehr, sehr viel geforscht werden“

Der Vorteil an offenen Schulen sei das psychosoziale Unterstützungssystem. „Jugendliche, die sich an uns wenden, haben oft Ängste, wie das alles weitergeht und wie lange das so bleiben wird“, erzählt Bell. „Sie haben auch Sorgen, wie das Zusammenleben wird, wenn wieder alle zu Hause in der kleinen überschaubaren Wohnung sitzen. Viele haben in den bisherigen Lockdowns leider keine positive Erfahrungen gemacht.“ Der Psychologe rät zu einer Tagesstruktur über die Schule hinaus auch in der Freizeit: „Zeiten einplanen, in denen man Freunde und Freundinnen treffen kann – vielleicht auch über verschiedene Medien.“

Mehrere Studien aus dem deutschsprachigen Raum zeigen, dass psychische Belastungsfaktoren bei Kindern und Jugendlichen seit Beginn der Pandemie zugenommen haben. Das müsse ernst genommen werden, sagt Bell. Man wisse zudem noch nicht genau, wie sich „Long Covid“ bei Kindern und Jugendlichen auswirkt – auch auf jene, die sich mit dem Coronavirus ansteckten und keine Symptome zeigten. „Da wird in der nächsten Zeit noch sehr, sehr viel geforscht werden.“