Verfassungsgericht in Warschau
Reuters/Kacper Pempel
Nächster Tabubruch

Teil der EMRK für Polen „verfassungswidrig“

Polen setzt seinen Konfrontationskurs mit der EU fort: Ein Teil der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist nach einem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts nicht mit der Verfassung des Landes vereinbar. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg habe daher keine Grundlage, die Rechtmäßigkeit der Ernennung polnischer Verfassungsrichter zu prüfen, urteilte das Gericht am Mittwoch.

Konkret geht es um Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die von 47 Staaten unterzeichnet wurde – darunter auch Polen. „Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten (…) oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren (…) verhandelt wird“, heißt es darin.

Dieser Artikel dürfe aber vom EGMR nicht angewandt werden, um die Unabhängigkeit der Richter am Verfassungsgericht zu prüfen, heißt es nun in dem Urteil. Denn Grundlage der Unabhängigkeit der Verfassungsrichter seien „die polnische Verfassung und andere Gesetze“. In seiner Urteilsbegründung brachte der Verfassungsrichter Wojciech Sych das auf die Formel: „Man kann den Verfassungsgerichtshof nicht als Gericht betrachten.“ Somit müsse Polen auch ein bestimmtes Urteil des EGMR nicht umsetzen.

„Ein schöner Tag“

„Das Verfassungsgericht kippt das EGMR-Urteil, das unser System verletzt“, erklärte der stellvertretende Justizminister Sebastian Kaleta auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Es sei ein „schöner Tag für die polnische Rechtsstaatlichkeit und Souveränität“, erklärte Kaleta weiter. Mit dem Urteil habe das Verfassungsgericht „einen weiteren Versuch einer externen und illegalen Einmischung in das polnische System gestoppt“.

Polens nationalkonservative PiS-Regierung baut seit Jahren das Justizsystem um. Die EU-Kommission hat wegen der Reformen bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen die Regierung in Warschau eröffnet und Klagen beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht. Unter anderem hat die Brüsseler Behörde auch Zweifel an der Unabhängigkeit des polnischen Verfassungsgerichts, das nun dieses Urteil fällte. Vorsitzende ist Julia Przylebska, enge Vertraute von PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski. Kürzlich hatte dieses Gericht den Vorrang des nationalen Rechts vor EU-Recht festgestellt.

Urteil vom Mai als Auslöser

Die jetzige Entscheidung des Verfassungsgerichts bezieht sich auf ein Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs vom 7. Mai 2021. Die Firma Xero Flor hatte geklagt, nachdem das polnische Verfassungsgericht ihren Fall abgelehnt hatte. Weil es Zweifel an der rechtmäßigen Ernennung eines der Richter gab, die diese Entscheidung getroffen hatten, rief die Firma das Gericht in Straßburg an. Dieses gab dem Kläger recht und sprach ihm eine Entschädigung zu.

Europarat und Opposition besorgt

Der Europarat zeigte sich angesichts der Entscheidung besorgt. „Das heutige Urteil des polnischen Verfassungsgerichts ist beispiellos und gibt Anlass zu ernster Besorgnis“, erklärte Generalsekretärin Marija Pejcinovic Buric. Alle 47 Mitgliedsstaaten des Europarats hätten sich verpflichtet, „die in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegten Rechte und Freiheiten zu gewährleisten“.

Auch die polnische Oppositionspolitikerin Kamila Gasiuk-Pihowicz kritisierte das Urteil scharf. „In Russland wählt das Verfassungsgericht auch die Urteile aus, an die es sich halten will“, sagte sie. Polen habe die Europäische Menschenrechtskonvention vor 30 Jahren unterzeichnet, nun versuche die Regierung, das Land „aus der Gruppe der demokratischen Länder drängen“.

EGMR 1959 gegründet

Der EGMR hat Polen bereits mehrfach wegen seiner umstrittenen Justizreformen verurteilt. Unter anderem fällte er im Juli ein Urteil gegen die Disziplinarkammer, anhand derer die PiS gegen Korruption, anderes Fehlverhalten und gegen das „Erbe des Kommunismus“ im Justizsystem vorgehen will.

Der EGMR wurde 1959 von den Mitgliedsstaaten des Europarates in Straßburg gegründet. Seine Aufgabe ist es, Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention zu prüfen und zu ahnden.