Melodymat, 2019 / Melodymap, 2020 und kinoMANUAL, POCKET CINEMA, 2021
Martina Tritthart – Johanna Smiatek
Ungewollte Geheimschau

Ein Grenzgang mit der Wahrnehmung

Was passiert mit der Welt, wenn unsere Wahrnehmung in Einzelteile zerbricht? Für drei Wochen wollte sich eine Schau im Wiener Künstlerhaus den Übergangsformen zwischen Realität und Abstraktion widmen und dazu eine Serie eindrücklicher Videoarbeiten zeigen. Doch die Pandemie verunmöglichte jeden Besuch. Jetzt sind Schlüsselexponate der Schau hier zu erleben. Die Experimente reichen von kinetischen Installationen bis zur Visualisierung von Oberflächenspannungen in grellstem Gelb.

Eigentlich hätte es ein großes Festival mit Preisverleihung und einer Erkundung im Museum werden sollen. Doch dann kam durch die Pandemie alles anders. Das bekannte spanische Festival Punto y Raya, also „Punkt und Strich“, das alle zwei Jahre in Spanien stattfindet und dort abstrakte Filme und abstrakte Animationen präsentiert und auszeichnet, hätte heuer einen Ableger im Wiener Künstlerhaus gehabt. „Transformations“ heißt die Schau, die von Martina Tritthart und Holger Lang kuratiert wurde.

Wenn die Wahrnehmung umschlägt: Eine Ausstellung in 84 Sekunden

Pandemie erzwingt Onlineformat

Durch die Pandemie konnte das Festival nur online stattfinden. Und auch die Preisträgerinnen und Preisträger prämierte man über die Ferne. Ausgestellt wurden zwischen 25. November und 11. Dezember zwölf künstlerische Positionen, in denen der Übergang zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion in Bewegungsform präsentiert wurde.

ORF.at zeigt die Arbeiten nun als eine Art „Finissage“, wiewohl viele der ausgestellten Werke gerade eine Form von realer bzw. taktiler Auseinandersetzung verlangten, darunter eine Video-Installation des Österreichers Virgil Widrich, die Widrich gemeinsam mit Martin Reinhart bereits 1992 für das ZKM in Karlsruhe entwarf. Die Installation „tx-mirror“ modifiziert die eigene Gestalt, die vor dem Exponat steht, zu einer Form von mehrfachen Spiegelungen und lässt so etwas wie einen intuitiven Zugang zum Erleben der eigenen Gestalt zu. Als beträte man einen liebevollen, nur intuitiv steuerbaren Zerrspiegel, so stellt sich dieses Projekt dar, das auf einem komplexen Zusammenspiel von Programmierung und Kamera- mit Bildschirmumsetzung beruht.

Vom Digitalen zurück in den Kinetismus

Deutlich weiter zurückgeworfen wird man bei der poetischen Installation „Pocket Cinema“ aus Polen, die mit einer Reihe alter, analoger Projektoren das scheinbar perfekte digitale Bild in seine Grundbausteine rückübersetzt und dabei einfach auf ganz alte Technologien zurückgreift. Die Arbeit des polnischen Duos kinoMANUAL wirkt dabei, als wäre man in frühen Experimenten des Kinetismus gelandet. Ein Zauberspiel geometrischer Formen tanzt in den neu renovierten Räumen des Wiener Künstlerhauses, das sich genau über der Albertina Modern befindet.

Bewegung macht Klang

Vor der Installation des polnischen Duos liegt der „Melodymat“, eine Installation, die das Wort „Klangkörper“ wörtlich nimmt. Die Besucher würden hier einen Keramikball bedienen, der aussieht wie eine in Farbe getauchte Kugel, die außen die Struktur eines Autoreifens hat. Doch die Spuren, die man auf den ausgelegten Teppich zieht, sind nicht grafischer Art, sondern klanglicher. Je nach Bewegung vollzieht das Werk der Künstlerin Johanna Smiatek verschiedene Klangbewegungen und produziert unterschiedliche Eindrücke eines Zusammenhanges, über den wir nie nachdenken: Wie setzt sich Bewegung in Geräusch um – und wie sind diese steuerbar?

Fotostrecke mit 12 Bildern

MY ROSSO CORSA (or 86m/h), 2013
Martina Tritthart – Johanna Smiatek
Martina Tritthart – Johanna Smiatek, „My Rosso Corsa“ (or 86 m/h), 2013
Melodymat, 2019 / Melodymap, 2020 und kinoMANUAL, POCKET CINEMA, 2021
Martina Tritthart – Johanna Smiatek
Martina Tritthart – Johanna Smiatek, „Melodymat“, 2019, „Melodymat“, 2020, und kinoMANUAL, „Pocket Cinema“, 2021
SOPHIE ORANGE, 2021
Martina Tritthart – Billy Roisz
Martina Tritthart – Billy Roisz, „Sophie Orange“, 2021
SOPHIE ORANGE, 2021
Martina Tritthart – Billy Roisz
Martina Tritthart – Billy Roisz, „Sophie Orange“, 2021
Jorge Rando, 2019
Martina Tritthart – Blanca Rego Constela
Martina Tritthart – Blanca Rego Constela, „Jorge Rando“, 2019
TX-mirror, 2018
Martina Tritthart – Martin Reinhart and Virgil Widrich
Martina Tritthart – Martin Reinhart and Virgil Widrich, „TX-mirror“, 2018
Concrete Abstraction: Road Triptych (2019)
Martina Tritthart – Max Hattler
Martina Tritthart – Max Hattler, Concrete Abstraction: „Road Triptych“, 2019
Installationsansicht TRANSFORMATIONS, 2021
Billy Roisz
Billy Roisz, Installationsansicht „Transformations“, 2021
INFINITE POEMS, 2019
Holger Lang – Jörg Piringer
Holger Lang – Jörg Piringer, „Iinfinite Poems“, 2019
Fragments, 2020
Martina Tritthart – Myriam Boucher and Pierre-Luc Lecours
Martina Tritthart – Myriam Boucher and Pierre-Luc Lecours, „Fragments“, 2020
Installationsansicht TRANSFORMATIONS, 2021
Tereza Stehlíková
Tereza Stehlikova, Installationsansicht „Transformations“, 2021
Installationsansicht TRANSFORMATIONS, 2021
Jörg Piringer
Jörg Piringer, Installationsansicht „Transformations“, 2021

Wenn Klang sichtbar wird

Die Umsetzung von Bewegung, Spannung und Geräusch befragt auch die Arbeit „Sophie Orango“ der österreichischen Künstlerin Billy Roisz, die in einer blauen Wasserschale „Chladni-Muster“ erzeugt, die wiederum entstehen, weil die Schale auf einem vibrierenden Stuhl steht. Je nach Erschütterung ergeben sich unterschiedliche Muster, die mithilfe einer Projektion gelb-orange auf eine Leinwand fallen. Chladnische Klangfiguren sind Muster, die etwa auf einer mit Sand bestreuten dünnen Platte entstehen, wenn diese in Schwingungen versetzt wird. Benannt wurden diese Muster nach dem deutschen Forscher Ernst Chladni.

Überhaupt dreht die Schau Fragen aus der Natur und technische Prozesse um und stellt sie auf den Kopf. Die Sichtbarmachung von Dingen, die sich unserer Wahrnehmung entziehen, ist die einende Klammer dieser Schau. So auch die großartige Installation „Infinite Poems“ des Österreichers Jörg Piringer, der drei Konsolen baute, in denen Buchstaben in den leeren, zweidimensionalen Raum fallen und dort Konfigurationen ohne Ende, aber mit Bedeutung suchen. X und Y purzeln durcheinander auf einem Display – infinit, ohne Ende und ohne Vorhersage, wie diese beiden Buchstaben zueinanderfinden können. Ungewollt vielleicht eine der schönsten und zugleich auch treffendsten Beschreibungen der Zeit, in der wir leben, und der Aufgaben, derer wir uns zu stellen haben.