Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP)
ORF
Neue Töne

Nehammer für „Abrüsten der Worte“

Der neue Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) hat sich Sonntagabend in einem gemeinsamen Interview von ORF und Puls4 für ein „Abrüsten der Worte auf allen Seiten“ – auch in den eigenen Reihen – ausgesprochen. In Sachen Coronavirus zeigte sich Nehammer sehr vorsichtig: „Das Virus kommt mit Sicherheit zurück.“

Damit schlug Nehammer wie bei seiner Antrittspressekonferenz und seiner Regierungserklärung im Nationalrat auch im Interview mit Armin Wolf und Corinna Milborn neue Töne an. Kritik an Nehammer gab es – aus unterschiedlichen Gründen – am Montag von SPÖ und FPÖ.

Nehammers Parteikollegin Elisabeth Köstinger, Bundesministerin für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus, hatte zuletzt FPÖ-Chef Herbert Kickl „Blut an den Händen“ vorgeworfen. Er habe auch mit Köstinger darüber gesprochen, teilte Nehammer die Aussage sichtlich nicht. Man müsse in der Sprache, vor allem derzeit, sorgfältig sein.

Nehammer zu CoV-Politik und U-Ausschuss

Karl Nehammer (ÖVP) argumentierte, weshalb das gebrochene Lockdown-Versprechen nötig war, und weshalb er weitere Lockdowns nicht ausschließt. Der Neo-Kanzler macht Werbung für die CoV-Impfungen und erklärt, warum die türkis-grüne Bundesregierung eine CoV-Impfpflicht verhängte. Am Ende geht er auf die Korruptionsvorwürfe gegen die ÖVP ein, die in einem U-Ausschuss behandelt werden.

FPÖ „derzeit nicht regierungsfähig“

Kickls Sprache sei derzeit sehr aggressiv, meinte Nehammer. Alle in der Politik hätten zurzeit sehr viel Verantwortung, richtete Nehammer dem FPÖ-Chef aus, „die Zunge ist schärfer als das Schwert“, warnte er. Auf die Frage, ob die FPÖ zurzeit eine regierungsfähige Partei sei, meinte Nehammer: „Derzeit nicht.“ Aber die FPÖ sei derzeit in einem „Selbstfindungsprozess“.

Mit den anderen Oppositionsparteien gebe es derzeit eine breite und gute parlamentarische Diskussion und vertrauensvolle Gespräche, etwa zum Thema Impfpflicht. Die FPÖ führe aber „einen anderen politischen Kampf“.

Gesprächsangebot an „verunsicherte Bürger“

Einmal mehr fand er für Kritiker der Regierungsmaßnahmen eher versöhnliche Worte: Bei den Coronaprotesten gebe es viele besorgte und verunsicherte Bürgerinnen und Bürger, an die richte er sich mit seinem Gesprächsangebot. Gleichzeitig empfahl er diesen, das Gespräch mit Ärztinnen und Ärzten zu suchen. Er verwies aber auch darauf, dass es bei den Demonstrationen gewaltbereite Gruppen sowie „neue und alte Rechtsextreme“ gebe. In Wahrheit werde die Gruppe der Besorgten „missbraucht und instrumentalisiert“.

Armin Wolf und Corinna Milborn im Gespräch mit Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP)
ORF
Interview im Bundeskanzleramt

Virus als Feind

Zum Fleckerlteppich bei den Maßnahmen und Öffnungsschritten meinte Nehammer, dass die Landeshauptleute schärfere Regeln erlassen können – auch weil sie den Blick auf „ihre“ Spitäler richten. Von Bundesseite sei ein Sicherheitsnetz aus „starken Seilen geflochten“ worden, die Bundesländer hätten es in der Hand, dieses noch enger zu machen.

Von einer Öffnung wollte Nehammer nicht sprechen, schließlich gelten weiterhin der Lockdown für Ungeimpfte sowie strenge Schutzmaßnahmen wie Maskenpflicht und die 2-G- bzw. 3-G-Regeln. Auch Experten hätten die Öffnungsschritte als vertretbar bezeichnet.

Die geplante Impfpflicht verteidigte Nehammer als „Ultima ratio“: Wer sich impfen lasse, habe mehr Lebensqualität, so der Kanzler, der aber auch betonte, dass der „Feind“ das Virus sei – und nicht die „Menschen untereinander“. Ein Ziel einer bestimmten Impfquote wollte der ÖVP-Chef nicht nennen.

Impfen gegen mögliche Omikron-Welle

Deutlich wurde er allerdings, als er im Gegensatz zu seinem Vorgänger Sebastian Kurz keine Versprechen machen wollte, wann die Pandemie zu Ende sei. Man habe jetzt eine Atempause, aber „das Virus kommt mit Sicherheit zurück“. Expertinnen und Experten hätten in den vergangenen Monaten immer wieder neue Erkenntnisse gewonnen – auch er bezeichnete sich in diesem Zusammenhang mehrfach als „Lernender“.

Angesichts der neuen Omikron-Variante sagte er, er könne einen neuerlichen Lockdown nicht ausschließen. Auf eine mögliche nächste Welle müsse man bestmöglich vorbereitet sein – und da sei Impfen das oberste Gebot. Und in der Politik wolle er für schnellere Entscheidungsfindungen sorgen. Es müsse das Netz mit Experten noch engmaschiger werden. „Da müssen wir einen Zahn zulegen.“

„Vertrauensverhältnis“ mit Grünen

Neuwahlen will Nehammer, wie er auch in zahlreichen Zeitungsinterviews am Sonntag kundtat, nicht: „Jetzt ist Pandemiemanagement angesagt.“ Die Koalitionspartner hätten ein gutes Vertrauensverhältnis zueinander, und man habe ein ambitioniertes Regierungsprogramm.

Dass die von ihm nun als Parteichef übernommene ÖVP von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) derzeit als Beschuldigte geführt wird, sei „natürlich nicht angenehm“. Nehammer verwies hier auf die Unschuldsvermutung bis zu einem Urteil eines Gerichts.

„Erbpacht“ Innenministerium?

In Bezug auf den anstehenden ÖVP-Untersuchungsausschuss verwehrte sich Nehammer gegen einen Generalverdacht gegen die ÖVP. Vielmehr hält er einen U-Ausschuss gegen eine Partei für „demokratiepolitisch bedenklich“. Dass es Kritik gibt, dass Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka den U-Ausschuss wieder leiten könnte, führt Nehammer auf politische Interessen zurück: „Der Standort bestimmt den Standpunkt.“ Wenn sich Sobotka da für den Vorsitz entscheide, sei es für ihn „legitim und richtig“.

Dass die „alte ÖVP“ mit ihren Länder- und Bündestrukturen die Partei wieder „übernommen“ habe, wollte der neue Parteichef nicht so stehen lassen. Und auch dass das Innenministerium eine „Erbpacht“ des niederösterreichischen ÖAAB sei, stellte er in Abrede: Gerhard Karner habe er deswegen zum Innenminister auserkoren, weil er diesen schon jahrelang kenne, mit ihm gearbeitet habe und ihm auch diesen schwierigen Job zutraue.

Als erster ÖVP-Chef „Austrofaschismus“ ausgesprochen

Auf neues Terrain wagte sich Nehammer in Sachen Geschichtsaufarbeitung: Als erster ÖVP-Chef bezeichnete er das Regime von Engelbert Dollfuß in der Zwischenkriegszeit als „Austrofaschismus“ – auch wenn er dabei gleichzeitig den „Austromarxismus“ als Gegenpart in dieser Zeit ins Treffen führte.

Eine konkrete Ankündigung gab es in Sachen Regierungsinserate: Hier müsse man für Transparenz und Klarheit sorgen. Die Ministerien hätten zwar unterschiedlichen Kommunikationsbedarf bei Inseraten. Es spreche aber überhaupt nichts dagegen, das ordentlich zu regeln, das sei aus seiner Sicht auch notwendig.

Kritik von SPÖ und FPÖ

Nach den Antrittsinterviews gab es am Montag Kritik von SPÖ und FPÖ. Die SPÖ ortete beim Kanzler „erschreckende Inhaltslosigkeit“. SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch betonte, die wichtigen Themen der stark steigenden Inflation sowie der Probleme im Pflegebereich und auf dem Arbeitsmarkt seien Nehammer keine Silbe wert gewesen.

FPÖ-Chef Herbert Kickl forderte seinerseits Nehammer auf, umgehend die Pläne für die Impfpflicht in Österreich einzustampfen und den Lockdown für Ungeimpfte zu beenden, wenn er glaubwürdig auf ein Miteinander in der Gesellschaft in Österreich setzen wolle. Ausgerechnet Kickl warnte zudem erneut vor einem „totalitären System“. Ein solches ist in Österreich faktisch freilich nirgendwo in Sicht. Und die geplante Impfpflichtregelung sieht als Sanktion nur Geldstrafen vor. Dazu gibt es die Möglichkeit, auch diese – durch eine nachträgliche Impfung – zu vermeiden.