Die große Frage ist, ob Chile mit dem Erbe des früheren Militärdiktators Augusto Pinochet bricht – eine Tendenz, die durch Proteste von vor zwei Jahren ausgelöst wurde. Die Positionen der beiden Kandidaten sind diametral entgegengesetzt. Der 55-jährige Kast gilt als Bewunderer des neoliberalen Wirtschaftsmodells von Pinochet. Er ist Vorsitzender der von ihm gegründeten ultrarechten Partido Republicano.
Kast ist ein strenger Katholik, der die „Ehe für alle“ und Abtreibungen ablehnt. Seinen Vorschlag, das Frauenministerium abzuschaffen, zog er nun allerdings zurück. Auch beim Abtreibungsrecht und bei Steuersenkungen für Großkonzerne schlug er in einer letzten TV-Debatte gegen Boric moderatere Töne an. „Wenn Pinochet noch lebte, würde er mich wählen“, sagte der erklärte Pinochet-Verehrer Kast allerdings.

Kritiker monieren, dass sich Kast nie deutlich von der Militärdiktatur von Pinochet (1973–1990) mit zahllosen Menscherechtsverletzungen und Gräueltaten distanziert hat. Der Präsidentschaftskandidat sympathisiert mit dem ultrarechten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Einige Beobachter stufen Kast als Rechtsextremisten ein.
Boric will große soziale Ungleichheit bekämpfen
Besonders umstritten in Kasts Wahlprogramm ist daher auch die geplante Möglichkeit zur Verhängung eines Ausnahmezustands, um die Inhaftierung von Oppositionellen außerhalb von Gefängnissen und die Schließung des Nationalen Menschenrechtsinstituts zu ermöglichen. Auch sein Eintreten für die Abschaffung des Schadenersatzsystems für Opfer der Militärdiktatur sorgt für Aufsehen.
Der 35-jährige linke Aktivist und Abgeordnete Boric hingegen will das Land wirtschaftspolitisch vom Erbe Pinochets lösen, das er für die große soziale Ungleichheit in Chile verantwortlich macht. Der Politiker vom Linksbündnis Apruebo Dignidad (Ich stimme der Würde zu) setzt sich für mehr soziale Gerechtigkeit, eine Reform des privaten Pensionssystems und eine stärkere Rolle des Staates im Gesundheits- und Bildungswesen ein. Die von ihm angekündigten Steuererhöhungen für die Ausweitung der Sozialprogramme sollen nach seinen Aussagen im letzten TV-Duell aber doch nicht ganz so hoch ausfallen.

„Chile wird Grab des Neoliberalismus sein“
Rechtsaußen Kast machte im Wahlkampf Stimmung gegen Boric. „Wir müssen uns zwischen Freiheit und Kommunismus entscheiden“, so Kast. Boric stehe für Chaos, Hunger und Gewalt. Weil Boric mit der Kommunistischen Partei paktiert, wirft Kast ihm vor, er würde Chile in eine linke Diktatur nach dem Vorbild von Venezuela verwandeln.
Boric hielt dagegen: „Ich werde den anderen Kandidaten nicht angreifen – das ist nicht mein Stil. Wir werden Fürsprecher der Hoffnung, des Dialogs und der Einheit sein. Unser Kreuzzug, für den wir uns in ganz Chile einsetzen werden, ist der Kreuzzug, dass die Hoffnung über die Angst siegt“, so Boric nach der ersten Wahlrunde. „Chile war die Wiege des Neoliberalismus, es wird auch sein Grab sein“, sagte er weiters im Wahlkampf.

Bachelet setzt sich für Boric ein
Die UNO-Menschenrechtsbeauftragte und ehemalige Präsidentin von Chile, Michelle Bachelet, kündigte vor der Stichwahl ihre Unterstützung für Boric an. „Es ist nicht egal, welchen Kandidaten man wählt. Und deshalb werde ich für Gabriel Boric stimmen und möchte alle meine Landsleute dazu aufrufen, wählen zu gehen“, sagte sie am Dienstag in einem von ihrer Stiftung Horizonte Ciudadano veröffentlichten Video.
Boric hatte im letzten TV-Duell erklärt, er habe sich persönlich mit der früheren Präsidentin getroffen. „Wir hatten ein sehr gutes Gespräch“, sagte er vor Journalisten. Bachelet war vorige Woche in ihre Heimat Chile gereist, wo sie die Weihnachts- und Neujahrsfeiertage verbringen wird.

Vargas Llosa unterstützt Kast
Der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa brachte indes seine Unterstützung für Kast zum Ausdruck. „Die Augen von ganz Lateinamerika sind auf Chile gerichtet. Ich glaube, es gibt keine Alternative, als die Wahlen zu gewinnen“, sagte Vargas Llosa in einem Videogespräch zu Kast, wie die chilenische Zeitung „La Tercera“ Anfang Dezember berichtete. Vargas Llosa nannte die Wahl in Chile „absolut fundamental. Wenn Chile wieder die führende Position erlangt, die es in Lateinamerika hatte, kann sich die Situation in Lateinamerika sehr verändern“, so Vargas Llosa.
Mit seinen bisweilen äußerst rechtslastigen, radikalliberalen Positionen ist der 85-Jährige, der als Kandidat bei der Präsidentenwahl in Peru 1990 Alberto Fujimori unterlegen war, in der linkslastigen lateinamerikanischen Intellektuellenzunft ein Außenseiter.
Chile in der Krise
Lange galt Chile als leuchtendes Beispiel in der von Armut, Gewalt und politischer Unruhe geprägten Region. Das Land hat das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika, die Armut konnte in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesenkt werden. Zudem verfügt Chile über eine aktive Zivilgesellschaft, in den vergangenen Jahrzehnten wechselten sich gemäßigte linke und rechte Regierungen ab.

Heute befindet sich Chile in der Krise: Wegen Brandanschlägen und Attacken radikaler Indigener vom Volk der Mapuche hat die Regierung in einigen Regionen im Süden des Landes den Notstand ausgerufen. Präsident Miguel Juan Sebastian Pinera Echenique entging kürzlich nur knapp einem Amtsenthebungsverfahren wegen eines fragwürdigen Bergbaudeals.
Ein Prozent besitzt Hälfte des Vermögens
Zudem leidet das Land unter großer sozialer Ungleichheit. Das reichste Prozent der Bevölkerung besitze fast die Hälfte des gesamten Vermögens, so eine Studie der Wirtschaftshochschule von Paris. Weite Teile des Gesundheits- und Bildungswesens sind privatisiert, immer mehr Menschen fühlen sich abgehängt.
Vor zwei Jahren gingen deshalb über Wochen hinweg jeden Tag Tausende gegen die Regierung auf die Straße. Die Protestwelle entzündete sich zunächst an einer leichten Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr. Doch bald ging es um Grundsätzliches: Die Demonstranten forderten einen besseren Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung sowie eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftssystem.