Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2022
APA/Wiener Philharmoniker/Dieter Nagl
Wenn die Philharmoniker mitsingen

Das besondere Neujahrskonzert 2022

Nach Hause gehen – oder doch noch eine Runde drehen? Die Wiener Philharmoniker beschworen beim Neujahrskonzert 2022 unter Maestro Daniel Barenboim eine Welt, in der nicht um 22.00 Uhr Sperrstunde ist – und sangen bei Carl Michael Ziehrers Walzer „Nachtschwärmer“ selbst mit. Überhaupt war es ein Neujahrskonzert mit einigen Premieren – und es war eine musikhistorische Feststunde, bei der der Dirigent weniger auf große Gesten als auf feine Signale zur Präzision setzte. Jahrzehntelang kennen einander die Philharmoniker und Barenboim – eine Innigkeit, die man auch beim Nachschauen spüren darf.

„Wollen wir nach Hause gehen – oder wir bleiben noch hier bis in die Früh?“ – Ziehrers Walzer „Nachtschwärmer“ war eine der Premieren des heurigen Neujahrskonzert. Und dass die Philharmoniker diesmal mitsangen und -pfiffen, tat diesem Konzert, das so feierlich und beschwingt gegen die Pandemie auftrat, besonders gut. Davor hatte die Ouvertüre zur „Fledermaus“ und die „Champagner-Polka“ gerade den zweiten Teil noch zu einer Steigerung zum Teil eins werden lassen, der sich im Geist des Phönix auch gegen die Zumutungen der Gegenwart stellte. 1.000 Besucher, weniger als sonst, durften heuer im Wiener Musikverein beim Neujahrskonzert dabei sein.

Zum 3. Mal mit Barenboim

Zum dritten Mal leitete Daniel Barenboim nach 2009 und 2014 ein Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Die Zusammenarbeit mit dem Orchester begann bereits 1965 mit seinem Debüt als Pianist. 2022 feiert er seinen 80. Geburtstag.

Zum Nachschauen/-hören

Das gesamte Neujahrskonzert ist in tvthek.ORF.at nachzusehen und in oe1.ORF.at nachzuhören.

Barenboim und die Philharmoniker beschworen eine Zeit, da das Nachtschwärmen eine tatsächliche Option war. Und sie verwiesen auf eine Zeit, da das wieder möglich sein wird. Das heurige Neujahrskonzert war ein besonderes, setzte Barenboim doch auf so was wie einen breiten Streifzug durch die Musikgeschichte, die ja mit Blick besonders auf die 1850er und 1860er auch ein Streifzug durch die Gesellschaftsgeschichte ist, in der Österreich unter einer besonderen neuen Dynamik stand: Neue Schichten eroberten das gesellschaftliche Parkett. Gleich sechs Premieren erlebte das heurige Neujahrskonzert, das erneut den Zeitgenossen der Strauss-Söhne einen vergleichenden Stellenwert einräumte. Einzig den „Kaiserwalzer“ durfte man heuer vermissen.

Barenboim, zurzeit Musikdirektor der Staatsoper Unter den Linden, setzte am Pult auf kenntnisreiche Führung, die sich große Gesten sparte. Beide Seiten eint ein tiefes musikalisches Einverständnis. Dort wo es notwendig war, griff er ein, sonst wusste er, dass man gerade bei diesem Konzert die Philharmoniker durchaus mit sich allein lassen konnte. „Konzerte und Opernabende sind in dieser Zeit besonders wichtig“, betonte der Dirigent im Vorfeld des Konzerts: „Wir sollten nicht leben ohne Musik. Die Musik ist kein Luxus, sondern sie ist geistig notwendig.“

Barenboim spricht zum Publikum

Barenboims Appell: „Wir sollten wieder eins werden“

Zum Auftakt des traditionell vom Publikum durch Applaus unterbrochenen „Donauwalzer“ wandte sich der Dirigent mit ein paar Worten auf Englisch an das Publikum im Saal und in der ganzen Welt: „Es ist wichtig, dass die Philharmoniker dieses Konzert spielen. Heuer ist es besonders wichtig. Was Sie heute sehen, ist, dass so viele Musiker eine Einheit werden. Dass man zusammen als Einheit spielt und fühlt. Covid ist nicht nur eine medizinische, sondern menschliche Katastrophe. Es bringt uns auseinander. Deshalb sollten wir dieses Konzert als ein Bild sehen, dass wir wieder eins werden und über diese schreckliche Katastrophe hinweg kommen.“

Carl Michael Ziehrer: „Nachtschwärmer“. Die Philharmoniker singen mit.

Schläpfer trifft Arbesser

Die heurige Balletteinlage entführte ins Schloss Schönbrunn, wo Staatsopernballettchef Martin Schläpfer eine Choreografie zu „Tausend und eine Nacht“ von Johann Strauss Sohn entworfen hat, die von zehn Tänzerinnen und Tänzern aufgeführt wurde. Die Kostüme stammten in diesem Jahr vom mittlerweile Neujahrskonzert-erprobten österreichischen Modemacher Arthur Arbesser.

Johann Strauß II.: „Persischer Marsch“, op. 289

In anderen Sphären

Herzstück des Konzerts ist für Barenboim, wie er in Interviews bestätigte, der Walzer „Sphärenklänge“ von Josef Strauss, der 1868 in den Wiener Sophiensälen uraufgeführt wurde und bereits damals für Furore gesorgt hatte.

Der im Wagnerismus badende erste langsame Teil dieses Walzers erinnerte die Presse sehr stark an Melodien für das Jenseits – und da dieses Stück im Rahmen des Medizinerballs zum ersten Mal gespielt wurde, stand rasch die Spannung zwischen Lebensrettung und Entrückung im Raum der Betrachtung. „Die Melodien dieses Walzers waren besser als ihr Titel, da es einen eigentümlichen Eindruck machte, ausgerechnet auf dem Medizinerball musikalisch an das Jenseits erinnert zu werden“, las man am 22. Jänner 1868 im „Fremden-Blatt“.

Dirigent Daniel Barenboim und die Wiener Philhamoniker beim Neujahrskonzert 2022
ORF/Roman Zach-Kiesling
Daniel Barenboim oder: Die Präzision liegt in den Nuancen

Das Programm des Neujahrskonzerts 2022

Erster Teil

  • Josef Strauss, „Phönix-Marsch“, op. 105*
  • Johann Strauss (Sohn), „Phönix-Schwingen“, op. 125
  • Josef Strauss, „Die Sirene“, op. 248*
  • Joseph Hellmesberger (Sohn), „Kleiner Anzeiger“, op. 4
  • Johann Strauss (Sohn), „Morgenblätter“, op. 279
  • Eduard Strauss, „Kleine Chronik“, op. 128*

Zweiter Teil

  • Johann Strauss (Sohn), Ouvertüre zur „Fledermaus“
  • Johann Strauss (Sohn), „Champagner-Polka“, op. 211
  • Carl Michael Ziehrer, „Nachtschwärmer“, op. 466*
  • Johann Strauss (Sohn), „Persischer Marsch“, op. 289
  • Johann Strauss (Sohn), „Tausend und eine Nacht“, op. 346
  • Eduard Strauss, „Gruß an Prag“, op. 144
  • Joseph Hellmesberger (Sohn), „Heinzelmännchen“
  • Josef Strauss, „Nymphen-Polka“, op. 50*
  • Josef Strauss, „Sphärenklänge“, op. 235

Zugaben

  • Johann Strauss (Sohn), „Auf der Jagd“, op. 373
  • Johann Strauss (Sohn), „An der schönen blauen Donau“, op. 314
  • Johann Strauss (Vater), „Radetzky-Marsch“, op. 228

* Alle mit Stern gekennzeichneten Stücke wurden zum ersten Mal im Rahmen des Neujahrskonzerts aufgeführt.

Internationale Ausrichtung entscheidend

Für Barenboims Zugang zum Neujahrskonzert ist, wie er sagt, die internationale Ausrichtung der Veranstaltung, die in mehr als 90 Ländern im Fernsehen übertragen wird, entscheidend. „Es kommen Menschen aus der ganzen Welt, man spielt Musik der ganzen Strauss-Familie.“ Wiener Walzer, Polkas oder Märsche will er als musikalische Formen jedenfalls nicht unterschätzt sehen. „Die Walzer-Musik hat auch einen leichten Charakter. Aber ein solcher Charakter kann viele Gesichter haben“, so Barenboim: „Die Musik ist leicht, aber nicht oberflächlich. Da gibt es einen Unterschied.“

Johann Straus Vater: Radetzy-Marsch, op.228

Besonderheiten sieht der 79-Jährige auch im Verhältnis zwischen Philharmonikern und Dirigenten. „Das Orchester beherrscht diesen bestimmten Stil ganz perfekt“, so Barenboim. „Es ist eine Zusammenarbeit, bei der der prozentuale Anteil des Orchesters größer ist als sonst.“

Karikatur auf die Strauß-Brüder: Josef, Johann und Eduard
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Karikatur auf die Strauss-Brüder: Josef, Johann und Eduard

Beschränkungen bei der Zuschauerzahl

Wegen kurzfristiger neuer Covid-19-Beschränkungen in Österreich musste die Zuschauerzahl für das Neujahrskonzert auf 1.000 reduziert werden. Den 700 Kartenbesitzern, die deshalb leer ausgehen, werden Plätze für das nächste Konzert 2023 reserviert. Das galt auch für die öffentliche Generalprobe am Donnerstag und das Silvesterkonzert am Freitag, bei denen dasselbe Programm gespielt wird wie am Neujahrstag.

Johann Strauß II.: Ouvertüre zur Operette „Die Fledermaus“

Nach den jüngsten Regelungen wären auch mehr Besucherinnen und Besucher möglich gewesen, dann aber mit vollständiger Grundimmunisierung, negativem PCR-Test (2-G Plus) und Auffrischungsimpfung. Um den Besuch des Konzertes auch ohne Boosterimpfung zu ermöglichen, verkleinerten die Veranstalter das Publikum. Bis zu 1.000 Zuschauern reicht der Nachweis von 2-G Plus.