Großbritanniens Boris Johnson neben Priti Patel, Elizabeth Truss, und Rishi Sunak
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Johnson in der Bredouille

Nachfolgedebatte in den Startlöchern

Der sonst so loyale Boulevard ist zum Angriff übergegangen, Teile der eigenen Parteien proben den offenen Aufstand, und in Umfragen stürzen seine Torys ab: Für den britischen Premier Boris Johnson wird es nach dem x-ten Skandal wirklich eng. Und das heizt bereits Spekulationen an, wer das Amt übernehmen könnte. Viele Namen werden genannt, doch es drängt sich noch keiner davon wirklich auf.

Johnson hat sich zwar für eine Gartenparty in der Downing Street während des ersten Coronavirus-Lockdowns im Mai 2020 entschuldigt, doch dafür gleich die nächste Kritik einstecken müssen. Er habe angenommen, es handle sich um ein Arbeitstreffen. Das sei rückblickend falsch gewesen. Johnsons Büroleiter hatte per E-Mail etwa 100 Mitarbeiter zu der Zusammenkunft eingeladen und betont: „Bringt Euren eigenen Alkohol mit.“ In der Nacht auf Freitag wurden schon die nächsten Vorwürfe laut: Am Tag vor dem Begräbnis von Prinz Philip soll in der Downing Street gleich doppelt gefeiert worden sein – Johnson befand sich zu diesem Zeitpunkt auf seinem Landsitz, schreibt der „Daily Telegraph“.

Die Opposition fordert Johnsons Rücktritt. Die Zeitung „Daily Mirror“ nannte den Premier auf ihrer Titelseite am Donnerstag „eine Schande“. „Daily Mail“, sonst recht Tory-freundlich, echauffierte sich nicht nur über der Regelverstoß, sondern auch über seine Ausreden. „Bizarre Lügen“ war in großen Lettern auf der Website zu lesen. Und auch seriöse Blätter wie der „Guardian“ sieht die Zukunft des Premiers auf des Messers Schneide.

Seit 2019 im Amt – und Skandale am laufenden Band

Dabei hatte der ehemalige Londoner Bürgermeister so lange auf das Premieramt hingearbeitet: Böse Zungen behaupten stets, die von ihm losgetretene Brexit-Kampagne habe er nur betrieben, um sich als Partei- und dann Regierungschef zu empfehlen. Nach mehreren Anläufen schaffte er es im Sommer 2019 und löste Theresa May in beiden Positionen ab. Doch seit Monaten folgt ein Skandal auf den nächsten, wöchentlich tauchten zuletzt neue Vorwürfe auf, dass er und seine Mitarbeiter bei Partys gegen Coronavirus-Regeln verstoßen hätten, während der Rest der Bevölkerung nicht einmal kranke Familienmitglieder besuchen durften.

Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov im Auftrag der Zeitung „Times“ (Donnerstag-Ausgabe) zufolge wuchs mittlerweile der Vorsprung der oppositionellen Labour-Partei vor Johnsons Konservativen auf zehn Prozentpunkte – die größte Differenz seit Dezember 2013. Kein Wunder, dass viele Torys nervös werden – und auch einige Geldgeber machten schon ihren Unmut laut.

Alle hinter ihm

Johnsons Kabinett stand zuletzt noch mehr oder weniger geschlossen hinter ihm. Dass sich so etwas schnell ändern kann, war vor einigen Monaten auch in Österreich zu beobachten. In London hält sich mit einer mit seiner Unterstützung auffällig zurück: Schatzkanzler, also Finanzminister, Rishi Sunak.

Tatsächlich gilt er als einer der zwei aussichtsreichen Anwärter auf eine mögliche Johnson-Nachfolge. Sunak ist der Sohn indischstämmiger Einwanderer aus Ostafrika. Er arbeitete in der Finanzbranche, bevor er in die Politik ging. Nicht nur deshalb eilt ihm der Ruf voraus, zwar smart, aber mehr Wirtschaftsberater als Politiker zu sein.

Der britische Finanzminsiter Rishi Sunak
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Sunak gilt als smarter Finanzfachmann, politisches Profil ausbaubar

Gestaltungswille wird ihm eher nicht zugeschrieben, zudem vertritt er im Vergleich zu Johnson noch neoliberalere Positionen und wirbt für niedrigere Steuern und eine stärkere Begrenzung der öffentlichen Ausgaben. In der Kritik stand er, als er in bangen Stunden der Pandemie in Kalifornien weilte, während britische Unternehmen um Hilfe riefen.

Vom Außenministerium an die Spitze?

Der zweite Name, der immer wieder fällt, ist Liz Truss. Seit 2014 hatte sie schon mehrere Staatssekretariate und Ministerposten innegehabt, in der allerersten Reihe steht sich aber erst seit Herbst des Vorjahres, als sie Dominic Raab im Außenministerium ablöste. Nebenbei übernahm sie zuletzt auch den vakanten Job des Brexit-Ministers, bei dem sie mit neuen Handelsabkommen gute Figur machte.

Außenministerin Liz Truss
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Liz Truss – beliebt in der Partei

In der Partei gilt sie als überaus beliebt – und das, obwohl sie sich einst für den Verbleib in der EU ausgesprochen hatte. Truss wird aber auch nachgesagt, sich etwas zu oft für Regierungsfotografen und damit Steuergeld zu inszenieren. Im November ließ sie sich etwa in einem Panzer ablichten – ein Bild, das an ein ikonisches Foto von Margaret Thatcher erinnern sollte.

Keine „Eton-Boys“ mehr

Neben den Favoriten Sunak und Truss ist die Liste der potenziellen Kandidaten lang. Auffällig ist das weitgehende Fehlen jener Kategorie Politiker, die Großbritannien in den vergangenen Jahren ihren Stempel aufgedrückt haben: die „Eton-Boys“, weiße Männer aus der Oberschicht, sozialisiert und bestens vernetzt in Eliteunis.

Der Secretary of State für Wirtschaft, Energie und Industriestrategie, Kwasi Kwarteng
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Kwasi Kwarteng

Einer, der zwar in Eton war, aber eine völlig andere Biografie aufweist, ist der 46-jährige Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng. Seine Eltern wanderten aus Ghana ein, der ehemalige Finanzanalyst übernahm 2021 als erster schwarzer Tory ein Ministeramt.

Als interessanter Außenseiter gilt Nadhim Zahawi, Staatssekretär im Bildungsministerium, der durch seine Rolle bei der Impfstoffbeschaffung bekannt und populär wurde. Im Alter von sieben Jahren floh seine kurdische Familie aus dem Irak. Der im Ölgeschäft tätige 54-Jährige gilt als einer der wohlhabendsten Abgeordneten der Insel.

Sajid Javid schon einmal gescheitert

Zwei prominentere Kandidaten haben derzeit schon Schlüsselministerien inne. Sajid Javid ist derzeit Gesundheitsminister – zuvor war er Schatzkanzler. Auch er ist ehemaliger Investmentbanker, und auch er gehörte eigentlich zu den „Remainern“, setzte sich also gegen den Brexit ein. Javid stammt aus eher bescheidenen Verhältnissen und arbeitete sich hoch. Im Rennen um die Nachfolge von Theresa May landete er zwar nur auf dem vierten Platz, dürfte sich aber gute Chancen ausrechnen, diesmal besser abzuschneiden. Der Zank über Coronavirus-Maßnahmen könnte ihm allerdings noch einen Strich durch die Rechnung machen.

Gesundheitsminister Sajid Javid
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Sajid Javid – ehemaliger Schatzkanzler

Hardlinerin als schillernde Figur

Als schillernde und umstrittene Figur gilt die 49-jährige Innenministerin Priti Patel. Ihre harte Haltung zur Einwanderung fand bei vielen Tory-Mitgliedern Gefallen, ihre Handlungsfähigkeit wurde aber durch die Dramen von Geflüchteten im Ärmelkanal infrage gestellt. Als Ministerin für internationale Entwicklung musste sie wegen inoffizieller Treffen mit israelischen Beamten zurücktreten. Johnson holte sie als Innenministerin zurück, dort sorgte sie gleich für Schlagzeilen, weil sie – durch offizielle Untersuchungen bestätigt – Beamte schikanierte.

Die britische Innenministerin Priti Patel
APA/AFP/Daniel Leal
Priti Patel sorgt immer wieder für Schlagzeilen

Im Ressort für Internationale Entwicklung wurde sie einst von Penny Mordaunt abgelöst, die später kurzzeitige Verteidigungsministerin war und nun für Handel zuständig ist. Auch sie scheint in einigen Kandidatenlisten auf. Als solider Joker gilt schließlich Jeremy Hunt. Der ehemalige Außenminister war 2019 bei der Parteichefkür Johnson unterlegen.

Parteiflügel noch in der Meinungsbildung

Noch ist das Feld der Kandidatinnen und Kandidaten recht groß – und auch die einzelnen Flügel der Partei scheinen noch mitten in der Meinungsbildung zu sein. Genau das ist jetzt noch die Chance Johnsons, sich länger im Amt zu halten. Die Vergangenheit hat aber gezeigt, dass so etwas auch sehr schnell gehen kann. Und die seinerzeitige Kür von May erinnert auch daran, dass eine solche Wahl bei den Torys nicht ganz zimperlich geführt wird – und durchaus mit einer Überraschung enden kann.