Buchcover Löwenherz von Autorin Monika Helfer
ORF
Monika Helfers „Löwenherz“

Finale einer Erfolgsgeschichte

Über 50 Jahre hat Monika Helfer geschrieben, bis sie mit „Die Bagage“ (2020) und „Vati“ (2021) erstmals internationale Bestseller landete. Mit „Löwenherz“ erscheint nun einer der meistbeachteten Frühjahrstitel, der Abschlussband ihrer autobiografischen Spurensuche. Nach der Großelterngeneration und dem Vater erzählt die Vorarlbergerin diesmal vom eigenbrötlerischen Bruder – wie gewohnt warmherzig und als fragmentarische Annäherung.

Als „Original“, so lässt sich Helfers sechs Jahre jüngerer Bruder vielleicht am besten bezeichnen: Der lässige, eigenwillige Freigeist konnte nicht anders, als nach seinem eigenen Regelwerk zu ticken. Richard, der von Beruf Schriftsetzer und privat ein leidenschaftlicher „naiver“ Maler war, teilte sich mit dem geliebten Hund Schamasch etwa brüderlich die Eierspeise und schaute passiv zu, was das Leben mit ihm anstellte. Bis er sich mit 30 das Leben nahm, wie Helfer schon zu Beginn vorwegnimmt.

Dieser dritte, vor allem in den 60ern und 70ern angesiedelte Teil der Autobiografie war von der Autorin zunächst gar nicht geplant, wahrscheinlich, weil es Helfer bisweilen sichtbar schwerfällt, diesen Sonderling, mit dem sie stellenweise wenig Kontakt hatte, tatsächlich zu fassen. Richard, so schreibt sie, war „die Hälfte seiner Tage (…) irgendein anderer, den ihm gerade seine Fantasie diktierte, damit er ihn in die langweilige Wirklichkeit hinübererzähle – oder aus ihr herauserzähle.“

Der Bruder, so viel steht jedenfalls fest, „verzauberte“ sein Umfeld „mit seinen Geschichten“ – und, wenn auch ganz anders gelagert, eben das lässt sich auch für die schreibende Schwester behaupten: „Zauberhaft“ und „märchenhaft“ lauten die Adjektive, mit denen Kritik wie Leserinnenschaft ihre bereits erschienenen beiden Familienromane begeistert aufgenommen haben.

Liebevolles Verstehenwollen

Seit den 1970er Jahren schreibt die 1947 im Vorarlberger Au geborene Helfer Erzählungen, Kinderbücher, Theaterstücke und Romane, darunter auch das für den Deutschen Buchpreis nominierte „Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ (2017), das 2020 unter dem Titel „Ein bisschen bleiben wir noch“ verfilmt wurde. Doch erst seit ihrer Familiensaga verkauft Helfer über der 100.000er-Marke, laut Auskunft des Carl-Hanser-Verlags liegt die Auflage von „Die Bagage“ bei „nicht ganz 200.000“.

Warum kommt der Erfolg erst jetzt? Helfers Familientrilogie fällt ins Genre der Autofiktion, die ja in den letzten Jahren einen echten Boom erlebt. Es gebe, bedingt durch die Digitalisierung, offenbar ein „großes Bedürfnis nach der – natürlich oft vermeintlichen – Wahrheit der Wirklichkeit“, so erklärte der Grazer Germanist Klaus Kastberger jüngst etwa das Phänomen gegenüber der „Kleinen Zeitung“.

Autorin Monika Helfer
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Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Vorarlberg

Und dann ist da noch das Helfer’sche „Wie“: Im Gegensatz zu Kolleginnen und Kollegen wie Annie Ernaux und Karl Ove Knausgard führt ihr literarischer Zugang weniger über die Abgrenzung denn über eine Haltung des Verstehenwollens. Zwar finden familiäre Schattenseiten in den Romanen genauso ihren Platz, anstelle einer Schärfe, die man angesichts der väterlichen Fehlleistungen in „Vati“ etwa hätte erwarten können, setzt Helfer aber auf einen liebevollen, zärtlichen Blick. Und diese tendenziell milde gestimmte Form der Introspektion scheint für viele den richtigen Ton zu treffen, gerade in Zeiten der pandemiebedingten (erzwungenen) familiären Rückbesinnung und zunehmenden Polarisierung.

Getrennte Kindheit

Chronologisch gesehen setzt das wieder leichtfüßig montierte „Löwenherz“ dort an, wo der Vorgängerband „Vati“ aufhörte: Nachdem Helfer in den 50ern glückliche Jahre auf der Vorarlberger Hochebene Tschengla verbracht hatte, wo der Vater ein Kriegsinvalidenheim leitete, stirbt ihre Mutter. Helfer ist damals elf, sie und die drei Schwestern kommen zur Tante nach Bregenz; Richard, der „Löwenherz“ genannte Liebling des Vaters, kommt zu Verwandten nach Feldkirch.

Während der besser situierte Feldkircher Haushalt für die Schwestern tendenziell ein Sehnsuchtsort ist, entpuppt sich dieser für den Bruder offenbar ganz anders: Schon als Achtjähriger läuft er weg und versteckt sich für mehrere Tage in einer Höhle – aber halt! Stimmt diese Geschichte des „Schmähtandlers“ und ausufernden Wirklichkeits- und Fiktionsvermengers überhaupt?

Dreijährige als Begleiterin

Stärker noch als bei „Bagage“ und „Vati“ legt Helfer in „Löwenherz“ die Schwierigkeiten der familiären Rekonstruktion offen: Leerstellen und Ungereimtheiten bleiben teils ungekittet, die streckenweise hochspannende Erzählung gewinnt vor allem dann an Dichte und Farbe, wenn es engeren Kontakt zu Helfer oder deren heutigen Mann Michael Köhlmeier gab, der einige Zeit ein naher Freund von Richard war und stark in den Erinnerungsprozess eingebunden ist.

Cover vom Buch „Löwenherz“
Carl Hanser Verlag

Buchhinweis

Monika Helfer: Löwenherz. Hanser, 192 Seiten, 20,60 Euro.

Richard lernt man so vor allem in jenen Jahren kennen, als – dank einer ungeheuerlichen Volte – plötzlich das dreijährige Mädchen Putzi in seine Obhut gerät. Diese Putzi ist die Tochter von Kitti, einer schrägen wie ausgefuchsten jungen Frau.

Die drei machen Bekanntschaft, als Kitti den Nichtschwimmer aus dem Bodensee rettet, der in einer irrwitzigen Aktion mit einer Badewanne als Boot herumschippern wollte. Kitti braucht rund um die Geburt einen Aufpasser für Putzi und wählt kurzerhand den circa 20-jährigen Richard aus.

Schlägerei mit Köhlmeier

Das Kind, dessen richtigen Namen selbst die Mutter nicht mehr weiß, wird folglich zur mehrmonatigen Begleiterin, um die sich Richard fantasie- und liebevoll kümmert – mit dem gesungenen „Pale Blue Eyes“ von Lou Reed als Lieblingsgutenachtlied und einer gemeinsamen Begeisterung für die Maschinenungeheuer in der Schriftsetzerei, denen Putzi Gummibärli mitbringt.

Schon früh schwingt mit, dass das für die Schwester doch überraschende gemeinsame Glück nicht von Dauer ist. Bevor Putzi tatsächlich aus Richards Leben verschwindet, lässt Helfer mit gutem Gespür für die Aussagekraft einzelner Szenen die Leserinnen und Leser einige teils abenteuerliche Wendungen durchleben, inklusive einer Schlägerei, deren Folgen Köhlmeier heute noch immer spürt.

Wohldosierte Einblicke in „wilde“ Jahre

„Löwenherz“ ist ein bisweilen märchenhafter Versuch, den doch immer fremd bleibenden Bruder ein bisschen besser kennenzulernen – im Gegensatz zu „Bagage“ und „Vati“ weitgehend der Zeitgeschichte enthoben. Dass diese Bodenhaftung fehlt, mag auch daran liegen, dass sich Richard wenig um das Zeitgeschehen scherte: Das Gespräch über die RAF, mit der Helfer durchaus sympathisierte, wird schlicht abgeblockt.

Nur in wohldosierten Portionen lässt Helfer in ihre eigene „wilde“ Vergangenheit blicken: Nicht nur Richard und „Putzi“ wirbelten damals ihr Leben durcheinander, sondern auch Köhlmeier, mit dem die bereits verheiratete Mutter zweier Kinder erst eine Affäre hatte. Die allgemeine Relevanz dieses Brudergedenkbuchs: ein Nachdenken über verpasste Chancen einer Begegnung – durchwegs unsentimental.