Verlasene Gebäude und im Hintergrund das Atomkraftwerk von Tschernobyl.
Reuters/Gleb Garanich
Ukraine-Krise

Tschernobyl als mögliches Einfallstor

Die Ukraine hat aufgrund der Gefahr einer Invasion durch Russland eine Verteidigungsstrategie für die Sperrzone von Tschernobyl eingeleitet, einen der radioaktivsten Orte der Welt. Der Grund: Die Tschernobyl-Sperrzone liegt auf dem kürzesten Weg zwischen Russland und der ukrainischen Hauptstadt Kiew.

Das Bizarre dabei: Die gesamte Tschernobyl-Sperrzone im Norden der Ukraine ist nach dem Reaktorunglück vom 26. April 1986 immer noch derart radioaktiv, dass man meinen könnte, es sei der letzte Ort auf der Welt, den man erobern möchte. Doch führt die kürzeste Route von Russland nach Kiew über Teile von Belarus bzw. den Norden der Ukraine – und damit durch die rund 2.600 Quadratkilometer weite Sperrzone von Tschernobyl.

Dort verursachte die Kernschmelze in einem Reaktor vor knapp 36 Jahren die schlimmste Nuklearkatastrophe der Menschheitsgeschichte. Aus Angst vor einer Invasion Russlands auf diesem ungewöhnlichen und durchaus gefährlichen Weg sah sich das ukrainische Militär vor etwa zwei Monaten dazu gezwungen, Sicherheitskräfte in das immer noch radioaktive Gebiet zu entsenden.

„Es spielt keine Rolle, ob das Gebiet verseucht ist“

„Es spielt keine Rolle, ob das Gebiet verseucht ist und niemand hier lebt“, sagte Oberstleutnant Juri Schachrajtschuk vom ukrainischen Grenzschutz zur „New York Times“ („NYT“). „Es ist unser Gebiet, unser Land, und wir müssen es verteidigen.“ Doch die ukrainischen Streitkräfte in der Sperrzone würden niemals ausreichen, um eine Invasion Moskaus abzuwehren. Sie seien hauptsächlich dazu da, Warnzeichen zu erkennen, so Schachrajtschuk. „Wir sammeln Informationen über die Lage entlang der Grenze und leiten sie an den ukrainischen Geheimdienst weiter.“

Ukrainische Soldaten
AP/Andriy Dubchak
International herrscht derzeit große Sorge vor einem möglichen russischen Einmarsch in der Ukraine

Als die sowjetischen Behörden vor rund drei Jahrzehnten die Tschernobyl-Sperrzone einrichteten, bestand das Konzept darin, die Folgen des Unfalls im Kernkraftwerk durch Isolierung zu begrenzen. Doch radioaktive Partikel, die sich immer noch in der Erde befinden und unter der Schutzhülle des zerstörten Reaktors eingeschlossen sind, würden für Soldaten und Soldatinnen 2022 nur mehr ein geringes Risiko darstellen, heißt es heute – solange sie sich nicht in zu stark verstrahlten Gebieten aufhalten. Zur Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten zählen deshalb einerseits Waffen, andererseits auch Geigerzähler, damit sie besonders verstrahlte Ecken meiden können.

Karte von der Ukraine
Grafik: Map Resources/ORF.at

Bei Weitem nicht alle scheinen den Einsatz von ukrainischen Soldatinnen und Soldaten in der Sperrzone gutzuheißen. „Wie kann das sein?“, reagierte etwa Iwan Kowaltschuk, ein ukrainischer Feuerwehrmann gegenüber der „NYT“. Kowaltschuk half der Zeitung zufolge in den ersten Tagen nach dem Reaktorunfall beim Löschen des Feuers in der Anlage und riskierte somit sein Leben.

400-mal mehr Strahlung als in Hiroshima

Der Reaktor Vier des Kernkraftwerks Tschernobyl explodierte und brannte während eines Tests am 26. April 1986. Dabei wurde etwa 400-mal mehr Strahlung freigesetzt als beim Bombenangriff auf Hiroshima. Dreißig Menschen starben unmittelbar nach dem Unfall, die meisten an den Folgen der Strahlenbelastung. Studien über die längerfristigen gesundheitlichen Auswirkungen deuten darauf hin, dass es schließlich zu Tausenden von Todesfällen durch Krebs kommen könnte und womöglich schon gekommen ist. Obwohl die Zone unbewohnbar ist, zieht sie heute Touristinnen und Touristen an.

Ein Teil der Geisterstadt Pripyat in der Nähe des Atomkraftwerks von Tschernobyl.
Reuters/Gleb Garanich
Tschernobyl gleicht heute einer Geisterstadt

Zum Zeitpunkt des Unfalls war die Ukraine eine Sowjetrepublik. Die sowjetischen Behörden versuchten zunächst, die Katastrophe zu vertuschen. Um keinen Verdacht zu erregen, veranstalteten sie einige Tage später Mai-Paraden in der Ukraine, bei denen etwa Schulkinder durch aufgewirbelten radioaktiven Staub marschierten. Diese Haltung trug dazu bei, die antisowjetische Stimmung in ganz Russland, Belarus und der Ukraine, den am stärksten betroffenen Ländern, zu schüren. Der Unfall wird heute als eine Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion fünf Jahre später gesehen.

Sorge über weitere Provokation durch Belarus

Vor vergangenem Herbst war die 700-Meilen-Grenze zwischen der Ukraine und Belarus – nur acht Kilometer vom havarierten Reaktor entfernt – fast unbewacht, insbesondere in den verstrahlten Gebieten. Das änderte sich im November inmitten der Flüchtlingskrise in Belarus und der Truppenaufstockung in Russland an der Grenze zur Ukraine.

Anschließend begann Moskau aus Sicht Kiews damit, Truppen in einer Weise zu mobilisieren, die auf Pläne für einen Einmarsch in die Ukraine über Belarus schließen ließ. Kiew befürchtete außerdem, dass Minsk, ein Verbündeter Moskaus, Auseinandersetzungen provozieren könnte, indem es Flüchtlinge an die ukrainische Grenze treibe – so wie es Belarus mit Polen getan hatte.