Ein junger Mann vor einem Impfzentrum in Lissabon
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Impfquoten in Europa

Gründe für die tiefe Kluft

Betrachtet man die Landkarte Europas, so zeigt sich bei den Impfquoten eine tiefe Kluft. Während im Westen gelegene Länder wie Portugal eine der höchsten Impfraten weltweit aufweisen, liegen jene im Osten weit unter dem europäischen Durchschnitt. Doch was sind die Gründe dafür? Sechs Experten und Expertinnen aus sechs Ländern geben Antworten.

Laut der Europäischen Seuchenbehörde (ECDC) haben rund 83 Prozent der Gesamtbevölkerung Portugals zwei Impfungen erhalten. In Dänemark sind es rund 82 Prozent. In Bulgarien gerade einmal 29 Prozent. Nicht viel besser sind die Raten in Rumänien, der Slowakei oder Russland: Keines dieser Länder kommt über 50 Prozent. Die Daten der Durchimpfungsraten sind – je nach Zählweise – unterschiedlich und nur bedingt vergleichbar. Klar ist aber: Zwischen den Ländern gibt es große Unterschiede, die im hohen zweistelligen Bereich liegen.

Kein Vertrauen in Politik, Medien und Wissenschaft, schlechte Kommunikation gepaart mit um sich greifenden Verschwörungstheorien, schwieriger Zugang zu medizinischer Versorgung, impfskeptische Ärzte und Ärztinnen, gefälschte Statistiken sowie Gesellschaften, die als individualistisch gelten – jedes Land erzählt seine eigene Geschichte. Und die scheinen nicht selten geprägt von der Geschichte selbst.

Impffortschritt in Europa nach Impfdosis (Anteile in Prozent der Gesamtbevölkerung): Je nach Zählweise und Datengrundlage können die Daten der ECDC von Angaben auf offiziellen Länderdashboards abweichen. Stand: 3. Februar 2022.

Mangel an Solidarität

In Bulgarien etwa sei aufgrund der politischen Vergangenheit in der Gesellschaft ein Solidaritätsdefizit entstanden. 45 Jahre Kommunismus hätten dazu geführt, dass die Solidarität zwischen den Bürgern und Bürgerinnen gänzlich zerstört worden sei, sagte der bulgarische Politikwissenschaftler Ewgenii Dainow im Zuge einer vom Forum Journalismus und Medien (fjum) organisierten Onlinediskussion am Donnerstag. Und weiter: „Wir vertrauen einander nicht. Wenn man uns sagt, lass dich impfen, um vulnerable Personen zu schützen, funktioniert das nicht.“

Es herrsche ein „dramatischer Mangel an Vertrauen“ in die Regierung, da die Bevölkerung immer davon ausgehe, dass sie belogen werde. Ähnlich verhalte es sich mit unabhängigen Experten und Expertinnen. Diese würden nicht als solche, sondern „als bezahlte Propagandisten“ wahrgenommen, so Dainow, der damit auch auf Verschwörungstheorien anspielt. All das habe dazu geführt, dass Bulgarien nicht nur eine der niedrigsten Impfraten, sondern auch eine der weltweit höchsten Sterberaten aufweise.

Die eigene Freiheit endet, wo die andere beginnt?

Ähnlich sei die Situation in Rumänien, auch hier habe die kommunistische Vergangenheit nach wie vor Auswirkungen auf die Gegenwart, meinte die Politanalystin und Chefin des rumänischen Thinktanks GlobalFocus Center, Oana Popescu Zamfir.

„Wenn wir den Spruch ‚Die eigene Freiheit endet, wo die des anderen beginnt‘ betrachten, fällt auf, dass wir nie zum zweiten Teil des Satzes gekommen sind.“ Seit dem Ende des Kommunismus 1989 bedeute Freiheit für Rumänen und Rumäninnen die völlige Freiheit – Solidarität, Empathie und Verantwortung anderen gegenüber hätten darin keinen Platz.

Auch in Rumänien vertraue man der Regierung nicht, schließlich gebe es das Gefühl, dass Politiker und Politikerinnen nur auf sich selbst achteten. Wenn sie nun Appelle zur Gesundheit und Sicherheit der Bürger aussprechen, mache das viele skeptisch. Die Regierung hätte laut Zamfir stärker auf vertrauenswürdige „Impftestimonals“ wie Fußballstars, Influencer oder auch Priester setzen sollen. Was stattdessen geschah, mutet paradox an: Jene, die die Impfkampagne bewarben, seien oftmals nicht einmal selbst geimpft gewesen, erzählte Zamfir.

CoV-Proteste in Bukarest
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Der CoV-Impfung steht man in Rumänien von Grund auf skeptisch gegenüber

„Vertrau bei Impfungen nicht deinen Freunden“

Misstrauen herrsche in Rumänien ebenso gegenüber medizinischen Einrichtungen, nicht zuletzt deshalb, weil diese gerade für die ländliche Bevölkerung schwer zugänglich sind. So vertraue man eher seinen Freunden und dem, was man selbst auf Social Media lese, meinte Zamfir. Für die Slowakei gibt es für dieses Phänomen sogar Zahlen: Dem Mathematiker Richard Kollar zufolge würden bei Informationen über das Coronavirus 25 Prozent der Bevölkerung der Regierung vertrauen, 28 Prozent ihren Freunden. Zum Vergleich: In Dänemark vertrauen nur drei Prozent ihren Freunden als Informationsquelle. Das führe unter anderem zu einer starken Polarisierung innerhalb der Gesellschaft. Kollar appellierte daher: „Vertrau bei Impfungen nicht deinen Freunden.“

In der Slowakei komme noch dazu, dass die ganze Opposition geschlossen gegen die Impfung gekämpft habe. Als die Regierung dann außerdem zu wenige Impfdosen bestellte, auf den russischen „Sputnik V“-Wirkstoff setzte und schlecht über die europäischen Impfstoffe geredet habe, sei die Bevölkerung endgültig ins Zweifeln geraten, so Kollar. Hier hätte laut Kollar die EU einschreiten müssen – schließlich sei das Vertrauen in EU-Institutionen in osteuropäischen Ländern oftmals höher als in die eigenen nationalen Regierungen.

Coronavirus in Russland lang „harmlose Grippe“

In Russland, so Dmitri Dubrowski von der Wirtschaftlichen Hochschule in St. Petersburg, vertraue man nichts und niemandem – nicht einmal dem eigenen Impfstoff. Hier seien vor allem zu Beginn der Pandemie Fehler passiert, die sich stark auf die Impfbereitschaft ausgewirkt hätten. Aufgrund des Präsidentschaftsreferendums sei das Coronavirus lange Zeit als „harmlose Grippe“ kleingeredet worden. Erst nach dem Referendum sei der Impfaufruf gekommen – doch zu spät. Zudem sei den offiziellen Zahlen der Regierung kaum zu trauen, da gerade bei den Statistiken oft getrickst werde.

Folglich gebe es im Land eine starke Bewegung von Alternativmedizinern und Impfgegnern. Und: Rund ein Drittel aller Ärzte und Ärztinnen in Russland seien nicht geimpft. 70 Prozent der nicht geimpften Russen und Russinnen hätten ein „Empfehlungsschreiben“ ihres Arztes bekommen, das ihnen bescheinige, sich nicht impfen lassen zu müssen, erzählt Dubrwoski. Der Politikwissenschaftler sieht das sowjetische Erbe als Grund dafür, dass viele Russen versuchen würden, sich der staatlichen Kontrolle zu entziehen, indem sie durch Bestechung oder Fälschung Impfzertifikate erschleichen.

Popup-Impfzentrum in Kopenhagen
Reuters/Ritzau Scanpix
Im Pop-up-Impfzentrum in Kopenhagen warten die Bürgerinnen und Bürger auf ihren Stich – die Impfbereitschaft in Dänemark ist hoch, nicht zuletzt, weil zwischen Bevölkerung und Regierung hohes gegenseitiges Vertrauen herrsche

Bürger vertrauen Regierung, Regierung vertraut Bürgern

Ein gänzlich anderes Bild zeichnen Dänemark und Portugal. Der dänische Politikwissenschaftler und Regierungsberater Michael Bang Petersen konstatierte ein hohes Vertrauen – sowohl von der Bevölkerung in die Regierung als auch von der Regierung in die Bevölkerung. Bei allen Maßnahmen sei immer auf deren Ausgewogenheit geachtet worden, so ließen sich auch die Öffnungsschritte vertreten. Aufgrund der milderen Omikron-Variante gibt es in Dänemark praktisch keine CoV-Beschränkungen mehr.

Unterdessen lässt sich der Erfolg der Impfkampagne in Portugal laut der portugiesischen Journalistin Luisa Meireles auf mehrere Faktoren zurückführen. Einerseits konnte in der Vergangenheit durch Impfungen die einst so hohe Kindersterblichkeit deutlich gesenkt werden. Das bedeute: „Die Portugiesen und Portugiesinnen vertrauen der Impfung“, meinte Merieles.

Auch sei die Regierung taktisch klug vorgegangen. Es habe regelmäßige Treffen mit Experten und Expertinnen gegeben, erst danach seien Maßnahmen verkündet worden. Geleitet worden sei die Kampagne zudem von einem „Admiral mit Charisma und Führungsqualitäten“, so Merieles.

Impfzentrum in Seixal
APA/AFP/Patricia De Melo Moreira
Portugal gilt als europäischer Impfmeister – zurückzuführen auf eine erfolgreiche Impfkampagne der Regierung und die Vergangenheit des Landes

Impfpflicht keine Lösung

Was die Frage von ORF.at betraf, nämlich wie die Expertinnen und Experten zu der kürzlich in Österreich eingeführten Impfpflicht stehen würden, waren sich diese einig: Eine Impfpflicht sei keine gute Lösung. So meinte etwa der Däne Bang Petersen: „Wir haben solide Belege aus der Forschung, dass das Ausüben von Druck auf Ungeimpfte das Vertrauen in die Regierung schwächt.“

Zudem habe die Omikron-Variante die Frage einer Impfpflicht völlig verändert, weil man diese nicht mehr mit der drohenden Gefahr der Ansteckung vulnerabler Personen durch Ungeimpfte und auch nur sehr schwer mit der Belastung der Spitäler rechtfertigen könne, so Petersen.