Eine junge Frau wird in Nairobi geimpft
AP/Brian Inganga
Amnesty kritisiert Pharmaindustrie

Verteilung von CoV-Impfstoff unfair

Mit der Pharmaindustrie scharf ins Gericht geht die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI). Sie wirft den Pharmaunternehmen eine unfaire Verteilung von Covid-19-Impfstoffen – und damit indirekt Menschenrechtsverletzungen – vor. Einmal mehr wird auch die Aufhebung des Patentschutzes gefordert.

Bis Ende 2021 hätten nur etwas mehr als vier Prozent der Menschen, die in Ländern mit geringem Einkommen leben, einen vollständigen Impfschutz erhalten, kritisierte die Organisation, die in einem neuen Bericht die Rolle von Pharmaunternehmen bei der weltweiten Bekämpfung der Pandemie untersuchte. 2021 seien insgesamt zehn Milliarden Covid-19-Impfstoffdosen produziert worden.

Das sei mehr als genug gewesen, um das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bis Jahresende ausgegebene Ziel einer globalen Impfquote von 40 Prozent zu erreichen. „Diese enorme Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Impfstoffen ist ungeheuerlich und eine Verletzung von Menschenrechten im großen Ausmaß“, sagte Annelen Micus, Expertin für Wirtschaft und Menschenrechte bei Amnesty International in Deutschland. Pharmaunternehmen trügen zu Menschenrechtsverletzungen bei, indem sie ihre Vakzine fast ausschließlich an die meistbietenden Länder mit höheren Einkommen verkauften.

„Profite vor Menschenleben“

„Die Pharmaunternehmen konzentrieren sich darauf, ihre Gewinne zu maximieren, statt die Zahl der Covid-19-Toten zu minimieren“, kritisierte Micus. Profite stünden vor Menschenleben. Amnesty forderte alle Impfstoffhersteller dazu auf, ihre Lieferungen an Länder mit geringem Einkommen zu priorisieren, um das von der WHO gesetzte Ziel einer globalen Impfquote von 70 Prozent bis Mitte 2022 zu erreichen.

Dazu müssten unter anderem die Impflücken in ärmeren Ländern geschlossen werden, und es müsste mehr getestet werden, hatte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus unlängst gesagt. In Afrika haben laut Tedros 85 Prozent der Menschen noch keine Impfung erhalten. Nur wenn in den kommenden Monaten 70 Prozent der Bevölkerung in jedem Land geimpft werden, könne das Virus besiegt werden. Außerdem müssten Behandlungsmöglichkeiten verbessert werden, um die Sterblichkeit zu senken. „Wir können Covid-19 als globale Notfallsituation beenden, und wir können es in diesem Jahr tun“, so Tedros.

„Größtes moralisches Versagen unserer Zeit“

Die WHO möchte insbesondere von den reichen Staaten 16 Milliarden Dollar (14 Milliarden Euro) einsammeln, um in den nächsten Monaten Impfstoffe, Tests und Medikamente zielgerichtet zur Verfügung zu stellen. „Die Ungleichheit bei der Verfügbarkeit von Impfstoffen ist das größte moralische Versagen unserer Zeit. Die Menschen und die Staaten zahlen den Preis“, sagte UNO-Generalsekretär Antonio Guterres.

Dem Amnesty-Bericht zufolge lieferten die Hersteller Pfizer, Biontech und Moderna nur ein beziehungsweise zwei Prozent ihrer Covid-19-Impfdosen an Länder mit geringem Einkommen. Bei den chinesischen Unternehmen Sinovac und Sinopharm seien es jeweils nur 0,4 Prozent beziehungsweise 1,5 Prozent ihrer Impfstoffdosen gewesen. Das Unternehmen Johnson & Johnson habe zwar 20 Prozent des Impfdosenbestands an Länder mit geringem Einkommen geliefert, viele dieser Dosen seien jedoch Spenden von einkommensstarken Ländern gewesen.

Streit über Patentschutz

Amnesty forderte am Montag auch, die Impfstoffhersteller sollten ihre Patente und Technologien teilen, um weltweite Produktionskapazitäten auszubauen. Ähnlich äußerte sich Oxfam, ein internationaler Verbund verschiedener Hilfs- und Entwicklungsorganisationen: Der Weg zur Aussetzung des Patentschutzes auf Covid-19-Impfstoffe müsse endlich freigemacht werden.

„Während fortlaufend neue Virusvarianten die Pandemie befeuern, ist nicht absehbar, wann und wie eine Immunisierung der Weltbevölkerung und damit ein Ende der Pandemie eingeleitet werden könnte“, so Oxfam am Donnerstag. Hauptproblem sei der durch das Herstellungsmonopol der Pharmafirmen verursachte Impfstoffmangel in ärmeren Ländern, dessen Ursache wesentlich im Patentschutz auf Covid-19-Impfstoffe liege.

Indien und Südafrika hatten im Oktober eine vorübergehende Aussetzung des Patentschutzes bei den Vakzinen vorgeschlagen, um die Produktion von Impfstoffen in Entwicklungsländern zu beschleunigen und der ungleichen Verteilung von Impfstoffen entgegenzuwirken. Seitdem laufen Verhandlungen auf Ebene der Welthandelsorganisation (WTO). Pharmakonzerne und die Länder, in denen sie angesiedelt sind, argumentieren, Patente seien nicht das Haupthindernis bei der Erhöhung der Produktion. Zugleich warnen sie, durch eine Aussetzung der Patente würden Innovationen ausgebremst.

WHO bringt patentfreien Impfstoff voran

Nach Angaben WHO kommt unterdessen das Projekt für einen patentfreien Covid-19-Impfstoff aus Afrika voran. Das von der WHO ausgewählte Forschungs- und Fertigungszentrum in Südafrika habe innerhalb weniger Wochen einen Impfstoffkandidaten auf Basis der neuartigen mRNA-Technologie produziert, berichtete die WHO vergangene Woche in Genf. Das sei ohne Unterstützung der Biotech-Firmen gelungen, die mRNA-Impfstoffe herstellen, aber die Zusammenarbeit bisher ablehnen, sagte Martin Friede, WHO-Koordinator für Impfforschung.

Die WHO rief Biotech-Firmen erneut zur Beteiligung an dem Projekt auf. Dadurch könne viel Zeit bei den klinischen Studien gespart werden. Mit ihrer Unterstützung sei die Entwicklung eines Impfstoffs in zwölf bis 18 Monaten denkbar, andernfalls dauere es drei Jahre. Laut einem Bericht des „British Medical Journal“ und der Tageszeitung „Die Welt“ hat Biontech die Erforschung eines afrikanischen Impfstoffs sogar aktiv zu verhindern versucht.

Die ersten Covid-19-Impfstoffe seien in reichen Ländern entwickelt und hergestellt worden, sagte WHO-Chefwissenschaftlerin Soumya Swaminathan. „Es gab so viel Hoffnung, als die Impfstoffe kamen – aber dann haben wir das Phänomen des Impfstoffhortens gesehen, und reiche Länder haben sich für Milliarden Dollar Vorkaufsrechte für Impfstoff gesichert“, so Swaminathan. Ärmere Länder seien monatelang fast leer ausgegangen. Die WHO habe erkannt, dass das Problem nur gelöst werden könne, wenn dort selbst produziert werde. Noch im Februar sollen neben Südafrika weitere Länder genannt werden, in denen produziert werden soll. Argentinien und Brasilien stehen bereits fest.