Ungarisches Parlament in Budapest
ORF.at/Zita Klimek
EuGH-Urteil

Polen und Ungarn sehen Machtmissbrauch

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am Mittwoch grünes Licht für eine neue EU-Regelung gegeben, die bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit Strafen ermöglicht. Damit können betroffenen Ländern EU-Mittel gekürzt werden. Im Fokus stehen vor allem Ungarn und Polen, die sich in der Sache schon länger im Konflikt mit Brüssel befinden. Das am Mittwoch verkündete Urteil sorgte nun für Zorn in den beiden Staaten – sie sehen einen Machtmissbrauch durch die EU.

Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sagte in Warschau, man werde das Urteil zunächst genau prüfen, bevor die Regierung darauf reagieren werde. Später ergänzte er, die Entscheidung des Gerichts sei keine Überraschung, die „bürokratische Zentralisierung“ und Föderalisierung der EU aber ein „gefährlicher Prozess“. Man wolle eine faire Verwendung der EU-Gelder.

Deutlicher äußerte sich Polens Justizminister Zbigniew Ziobro: Die EU wandle sich von einem Raum der Freiheit zu einem Raum, wo man rechtswidrig Gewalt anwenden könne, um den Mitgliedsstaaten die Freiheit zu nehmen und ihre Souveränität einzuschränken. „Es geht hier um brutale Macht und ihren Transfer auf diejenigen, die unter dem Vorwand der Rechtsstaatlichkeit diese Macht auf Kosten der Mitgliedsstaaten ausüben wollen“, so Ziobro.

In Budapest sagte Justizministerin Judit Varga, das Urteil sei ein Beispiel dafür, „wie Brüssel seine Macht missbraucht“. Der EuGH habe ein politisches Urteil gefällt. Am 3. April wird in Ungarn gewählt, Umfragen zufolge ist eine Wiederwahl des umstrittenen Ministerpräsidenten Viktor Orban fraglich. Orbans Partei FIDESZ sprach nach dem Urteil von „politischer Rache“ und dem Ziel der EU, der Opposition zum Wahlsieg zu verhelfen.

„Reaktionen zwischen Aggression und Fassungslosigkeit“

ORF-Korrespondent Ernst Gelegs berichtet darüber, wie die neue Regelung zur Ahndung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn aufgenommen wird.

Gericht: EU muss Haushalt schützen

Ungarn und Polen hatten zuvor gegen den Rechtsstaatmechanismus geklagt. Konkret geht es um die „Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit“, die seit Anfang 2021 in Kraft ist. Sie soll etwa dafür sorgen, dass Verstöße gegen Rechtsstaatsprinzipien wie die Gewaltenteilung nicht mehr ungestraft bleiben, wenn dadurch ein Missbrauch von EU-Geldern droht.

Der EuGH hatte dem Mechanismus am Mittwoch grünes Licht gegeben. Sein Ziel sei, den Unionshaushalt vor Beeinträchtigungen durch rechtsstaatliche Verstöße zu schützen, und nicht, diese zu ahnden. Der Haushalt sei eines der wichtigsten Instrumente, um die Solidarität zwischen den EU-Staaten zu konkretisieren, hieß es weiter.

Wenn ein Mitgliedsstaat gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoße, könne das die finanziellen Interessen der EU schwer beeinträchtigen. Denn dann sei nicht mehr gewährleistet, dass die Ausgaben den Zielen entsprechen, welche die EU mit der Finanzierung verfolge. Sanktionen könnten im Rahmen des Mechanismus nur dann verhängt werden, wenn es einen echten Zusammenhang gebe zwischen Rechtsstaatsverstößen und einer Bedrohung für die finanziellen Interessen der EU. Die Kommission müsse strenge Regeln beachten und unter anderem die betroffenen Mitgliedsstaaten mehrmals anhören.

Politische Überlegungen

Für die EU-Kommission ist das Urteil eine gute Nachricht. Sie hatte bisher von einem Einsatz des Mechanismus abgesehen und betont, man wolle erst auf das Urteil des EuGH warten. Die EU-Kommission hatte immer wieder unterstrichen, dass die Vorbereitungen auf Verfahren trotzdem liefen und kein Fall verloren gehen werde. Man wolle vor einer möglichen Umsetzung aber auch politische Fragen berücksichtigen.

EuGH-Urteil: EU darf Hilfsgelder kürzen

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat eine neue Regelung zur Ahndung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in der EU für rechtens erklärt.

Mit Blick auf Ungarn ist da zum Beispiel die Parlamentswahl Anfang April relevant – und die Abwägung, ob die Behörde noch vor dieser Wahl einen Schritt einleiten möchte, der als Wahlkampfeinmischung verstanden werden könnte.

Warschau sendete zuletzt Signale der Entspannung nach Brüssel. Präsident Andrzej Duda schlug die Auflösung der umstrittenen Disziplinarkammer vor, die seit Jahren für Streit mit der EU-Kommission sorgt. Zudem legte Polen einen Streit mit Tschechien bei, der zuvor bereits den EuGH beschäftigt hatte. Die EU-Kommission äußert sich bisher nur zurückhaltend zu diesen Entwicklungen, pocht auf konkretes Handeln – und nicht nur auf Ankündigungen.

Vorgehen gegen Justiz, Opposition und Medien

Polen und Ungarn werden seit Jahren schwere Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit vorgeworfen. Unter anderem stehen die Regierungen der beiden Staaten in der Kritik, die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben, die Pressefreiheit, die Opposition und den Schutz von Minderheiten zu schwächen und nicht genug gegen Korruption zu tun. Gegen beide Länder laufen Strafverfahren, die bis zum Entzug von Stimmrechten in der EU führen könnten. Bisher hat das aber keine wesentlichen Kursänderungen bewirkt.

Schnelle Strafen nicht absehbar

Von der Leyen zeigte sich über das Urteil erfreut. Die Kommission werde nun die Begründung des Gerichts sorgfältig analysieren. Die kommenden Wochen sollen weitere Klarheit bezüglich der Anwendung des Mechanismus schaffen. Schnelle Strafen zeichnen sich derzeit nicht ab.

Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) sagte nach dem Urteil im Ö1-Mittagsjournal, sie sei überzeugt, „dass Polen und Ungarn nun ihr Wort halten“ und die Entscheidung akzeptieren würden. Die Forderung mancher EU-Abgeordneter, den Mechanismen auch rückwirkend anzuwenden, kritisierte sie als „irreführend“, denn man habe sich politisch darauf geeinigt, zunächst die EuGH-Entscheidung abzuwarten, bevor man den Mechanismus anwende. Durch den Rechtsstaatsmechanismus habe die EU-Kommission nun „die Möglichkeit, klar Zähne zu zeigen, aber auf anderer Seite soll die Rechtsstaatlichkeit nicht dazu führen, uns weiter zu spalten“.

Österreichische EU-Mandatare zufrieden

Das EU-Parlament drängte die EU-Kommission seit Monaten, den Mechanismus zu nutzen. Österreichische Abgeordnete zeigten sich nun zufrieden. Die EU-Kommission „muss nun – bei weiterer Weigerung – Sanktionen gegen Ungarn und Polen verhängen“, so der Vizepräsident des EU-Parlaments, Othmar Karas (ÖVP). Der Mechanismus stelle klar: Wer sich nicht an gemeinsame Werte halte, müsse Abstriche bei der EU-Förderung machen. Dass nun Stimmen aus Polen und Ungarn von einem politischen Urteil sprächen, zeige, dass die Länder das Wesen der EU nicht verstanden haben, so Karas.

Die SPÖ-EU-Abgeordnete Bettina Vollath forderte „eine sofortige und rückwirkende Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus“. Die EU-Kommission müsse überprüfen, inwiefern EU-Gelder zum Abbau von Demokratie, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit verwendet werden und seit Anfang 2021 bereits verwendet wurden.

Auch die Grünen forderten die EU-Kommission auf, „endlich“ zu handeln. „Als Hüterin der Verträge ist diese Vorgehensweise der EU-Kommission grob fahrlässig den Bürger*innen aller Mitgliedsstaaten gegenüber, da dies als Unterstützung der Regierungen gewertet werden kann“, so die grüne Delegationsleiterin Monika Vana in einer Aussendung.