Busse zur Evakuierung in Donetsk, Ukraine
Reuters/Alexander Ermochenko
Ostukraine

Aufruf zur Flucht nach Russland

Während die Lage an der Grenze zur Ukraine weiterhin unübersichtlich ist, gibt es neuerlich Gefechte im Osten des Landes. Die moskautreuen Separatisten in Luhansk und Donezk riefen am Freitag Zivilistinnen und Zivilisten dazu auf, nach Russland auszureisen. Unterdessen gehen die gegenseitigen Anschuldigungen, aber auch die Aufrufe zu kalmieren weiter.

Am Freitag kam es in Donezk zu einer Explosion, wie die russische Agentur RIA berichtete. Der Vorfall habe sich in der Nähe des Regierungsgebäudes der Separatisten ereignet. Laut Nachrichtenagentur TASS ist ein Auto explodiert, offenbar wurde niemand verletzt.

Kurz zuvor hatten die dort regierenden Separatisten ihre Landsleute zur Ausreise nach Russland aufgefordert. Zuerst sollten „Frauen, Kinder und ältere Leute“ in Sicherheit gebracht werden, sagte der Chef der Donezker Separatisten, Denis Puschilin, in einer am Freitag veröffentlichten Ansprache. „Eine zeitweilige Ausreise bewahrt Ihnen und Ihren Verwandten das Leben.“ Die Situation im Donbass steuere auf einen Krieg zu, sagte Puschilin.

Grafik zu den russischen Rebellengebieten in der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Puschilin wandte sich an die Bewohner mit der „inständigen Bitte“, die „massenhafte, zentralisierte Ausreise“ wahrzunehmen. In Absprache mit den russischen Behörden seien im benachbarten Gebiet Rostow im Süden Russlands Unterkünfte bereitgestellt worden. Auch für warmes Essen und medizinische Versorgung sei gesorgt, heißt es. Aus Donezk sollen 700.000 Menschen nach Russland gebracht werden.

Die Luhansker Separatisten ordneten ebenfalls solche Maßnahmen an. Zudem wurden Evakuierungspläne etwa für die Stadt Horliwka veröffentlicht. Die ersten Busse sollten am Abend losfahren. Die Menschen sollten nur die notwendigsten Dinge wie Dokumente, Geld, Wechselsachen und Medikamente mitnehmen.

Gefechte gehen weiter

Die Separatisten warfen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski vor, er wolle „in nächster Zeit“ eine Offensive starten. Puschilin sagte, dass die Kampftruppen bereit seien, das „Staatsgebiet“ gegen einen Angriff der Ukraine zu verteidigen. „Wir werden siegen“, sagte er zum Ende der Videobotschaft.

Kiew hat wiederholt Angriffsvorbereitungen zurückgewiesen. „Wir weisen kategorisch russische Desinformationsberichte über angebliche Angriffe oder Sabotage zurück“, erklärte der ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba auf Twitter. Die Separatisten lehnen der Agentur Interfax zufolge Gespräche mit Kiew ab.

Am Donnerstag hatte eine starke Zunahme von Schusswechseln zwischen Separatisten und Regierungseinheiten international für Beunruhigung gesorgt. Im Konfliktgebiet kam es auch am Freitag nach Darstellung beider Seiten zu neuen Angriffen. In der Ostukraine dauerten die Bombardements in der Nähe des Dorfes Stanyzia-Luhanska offenbar auch zu Mittag an.

Zerstörter Kindergarten in Luhansk-Region
Reuters/Carlos Barrera
Ein Kindergarten wurde beschossen

Beratungen auf Sicherheitskonferenz

Am Freitag war die Krise das vorherrschende Thema beim Auftakt der Münchener Sicherheitskonferenz. Hier wurde von westlichen Vertretern besonders vor Falschinformationen und womöglich inszenierten Anlässen für ein Eingreifen gewarnt. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sieht die Gefahr einer unkalkulierbaren Eskalation. Diese könne auch durch Kommunikationspannen und Fehlannahmen ausgelöst werden. Die Lage sei bedrohlicher als im Kalten Krieg.

US-Außenminister Antony Blinken warnte etwa vor „falschen Provokationen“ Russlands. Die Evakuierungen aus der Ostukraine seien zudem ein „zynisches“ Manöver, bei dem Menschen als „Unterpfand“ missbraucht würden, so ein Sprecher des US-Außenministeriums. Damit wolle Russland davon ablenken, dass es „seine Truppen in Vorbereitung eines Angriffs verstärkt“. Blinken soll kommende Woche seinen russischen Amtskollegen Sergej Lawrow treffen.

US-Außenminister Antony Blinken auf der Münchner Sicherheitskonferenz
Reuters/Ina Fassbender
Die Münchner Sicherheitskonferenz beschäftigt sich vorwiegend mit der Krise an der ukrainischen Grenze

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock fürchtet bewusst verbreitete Falschinformationen. Mit Hinweis auf die Berichte über Evakuierung von Frauen und Kindern aus den von prorussischen Separatisten sagte sie, es gebe auch Berichte, dass diese nicht in bereitgestellte Busse einsteigen wollten. Baerbock verurteilte den russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze als „absolut inakzeptabel“ und als Drohung „gegenüber uns allen“.

In einer gemeinsamen Erklärung mit ihrem französischen Kollegen Yves Le Drian forderte sie Russland auf, mäßigend auf die prorussischen Separatisten einzuwirken. „Wir verurteilen den Einsatz schwerer Waffen und den wahllosen Beschuss ziviler Gebiete, die einen klaren Verstoß gegen die Vereinbarungen von Minsk darstellen.“ Man sei „höchst besorgt“ über den russischen Truppenaufmarsch und fordere Moskau zu einem „substanziellen Abzug“ militärischer Kräfte aus der Nähe der ukrainischen Grenze auf.

Putin bei Manövern

Russland ist zum ersten Mal seit 1991 nicht mit einer offiziellen Delegation bei der Sicherheitskonferenz vertreten. Kreml-Chef Wladimir Putin will am Samstag stattdessen persönlich einem Manöver unter Einbeziehung „strategischer“ Streitkräfte beiwohnen. Putin, der „Oberbefehlshaber der russischen Armee“, werde die „geplante Übung mit strategischen ballistischen Raketen und Marschflugkörpern beaufsichtigen“, teilte das russische Verteidigungsministerium laut Nachrichtenagenturen mit.

Das Manöver sei im Voraus geplant gewesen, teilte das Ministerium weiter mit. Das Präsidialamt merkte an, dass das Manöver nicht im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise stehe. Am Abend wurde dann sogar noch ein weiteres Manöver mit strategischen Truppen und ballistischen Raketen unter Putins Aufsicht angekündigt.

Andreas Pfeifer (ORF) zur Sicherheitskonferenz

ORF-Korrespondent Andreas Pfeifer ordnet Russlands Ankündigung, am Samstag ein Raketenmanöver zu starten, ein. Außerdem spricht er zum Sinn und Zweck der Sicherheitskonferenz.

Putin warnte auf einer Pressekonferenz am Freitag selbst vor einer Zuspitzung der Situation in der Ostukraine. „Im Moment sehen wir eine Verschlechterung der Lage.“ Außenminister Lawrow sagte, es würden dort auch Waffen eingesetzt, die gemäß dem Minsker Friedensprozess verboten seien. Lawrow warf zudem der OSZE-Sonderbeobachtungsmission laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Interfax vor, sie versuche, Verstöße gegen die Waffenruhe durch ukrainische Regierungstruppen zu beschönigen.

Russischer Abzug umstritten

Auch der Streit, ob Russland nun Soldaten von der ukrainischen Grenze abzieht oder nicht, ging am Freitag nahtlos weiter. Einige Soldaten seien nach dem planmäßigen Abschluss ihrer Militärübungen in ihre Garnisonen in der westrussischen Region Nischni Nowgorod zurückgekehrt, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau am Freitag mit. Ebenfalls abgezogen worden sei militärisches Gerät, das Panzereinheiten im westlichen Militärdistrikt gehöre. Laut einer separaten Mitteilung des Ministeriums wurden auch zehn Kampfflugzeuge vom Typ Su-24 von der Schwarzmeer-Halbinsel Krim abgezogen, die Russland im Jahr 2014 annektiert hatte.

Satellitenbild zeigt russische Einheiten in Kursk
APA/AFP/MAXAR
Russische Truppenbewegungen in einem Manövergebiet im russischen Kursk von einem Satelliten aufgenommen

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin warf Russland hingegen wie zuvor auch andere westliche Politiker erneut vor, seine Truppen an der ukrainischen Grenze weiter aufzustocken. Die von Moskau angekündigte Verlegung von Soldaten in ihre Garnisonen sei bisher nicht erkennbar, sagte Austin am Freitag bei einem Besuch in Warschau.

Erneute Spannungen im Ukraine-Konflikt

Vor dem Hintergrund der angespannten Lage im Ukraine-Konflikt hat Russland für Samstag ein Militärmanöver unter Aufsicht von Präsident Wladimir Putin angekündigt. Auch Raketen sollen offenbar eingesetzt werden. Unterdessen gehen die Gefechte in der Ostukraine weiter. Der Westen warnt erneut vor einer Eskalation. Am Freitag findet außerdem die Sicherheitskonferenz in München statt, in der die Ukraine das Hauptthema ist.

Die USA schätzen, dass Russland in und nahe der Ukraine möglicherweise bis zu 190.000 Militärangehörige im Einsatz hat. Mindestens seien es 169.000, sagte der US-Botschafter bei der OSZE, Michael Carpenter. Ende Jänner seien es noch rund 100.000 gewesen. „Das ist die bedeutendste Militärmobilisierung in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs.“

Am Donnerstag hatte US-Präsident Joe Biden auch nochmals vor einer Invasion Russlands „in den nächsten paar Tagen“ gewarnt, die Gefahr dafür sei „sehr hoch“. Ähnliche Sorgen äußerten NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Die NATO erhöhte laut dpa die Einsatzbereitschaft der eigenen Streitkräfte. Nach Ansicht der US-Regierung ist Russland auch für den jüngsten Hackerangriff auf mehrere ukrainische Websites verantwortlich.

Warnung vor Flüchtlingskrise

Der Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, warnte unterdessen bei einer weiteren Verschärfung vor der Flucht zahlreicher Menschen in die Europäische Union. „Es wird geschätzt, dass zwischen 20.000 und mehr als eine Million Flüchtlinge kommen könnten“, sagte er der deutschen Zeitung „Die Welt“. Zudem gebe es derzeit rund 20.000 EU-Bürger, die in der Ukraine lebten und Unterstützung bei einer möglichen Ausreise benötigen dürften. Die EU sei auch bereit, eine „bedeutende humanitäre Hilfe zu mobilisieren und beim Zivilschutz zu helfen“.

Polens Regierung traf bereits erste Maßnahmen für den Fall eines „massiven Flüchtlingsstroms“, wie es aus Warschau hieß. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) sagte dazu im Ö1-Morgenjournal: „Wir werden solidarisch zueinanderstehen.“ Ob Österreich mit einer Migrationswelle aus der Ukraine konfrontiert werde, bezeichnete der Regierungschef als vorerst „theoretische“ Frage. Es gebe aber in allen zuständigen Ministerien entsprechende Vorbereitungen.

Am Nachmittag sagte Nehammer in Brüssel, Russland sende weiter „verschiedene“ Signale. „Es ist nach wie vor so, dass es eine Verwirrtaktik seitens der russischen Streitkräfte gibt, in der Frage Druck aufbauen an der Grenze und wieder zurücknehmen“. Die EU-Kommission halte auf jeden Fall das „Sanktionsregime auf Knopfdruck“ bereit. Wichtig sei aber, dass die Gesprächsdiplomatie weitergehe.