US-Präsident Joe Biden
AP/Alex Brandon
Ukraine

Biden „überzeugt“ von Angriff Russlands

Keine Entspannung in der Ukraine-Krise: Am Freitag schob erneut jede Seite der jeweils anderen die Schuld für die Lage zu. In der Ostukraine kam es neuerlich zu Gefechten, die moskautreuen Separatisten riefen Zivilistinnen und Zivilisten dazu auf, nach Russland auszureisen. US-Präsident Joe Biden erklärte nach Beratungen, er sei „überzeugt“ von einem baldigen Angriff Russlands auf die Ukraine.

Biden rechnet nach eigenen Angaben mit einem russischen Angriff auf die Ukraine und die Hauptstadt Kiew in den „kommenden Tagen“. „Ich bin überzeugt, dass er die Entscheidung getroffen hat“, sagte Biden am Freitag im Weißen Haus über den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Russland habe aber immer noch die Wahl zwischen einem „Krieg“ und „Diplomatie“. Er rede so offen darüber, um Moskaus Bemühungen zu durchkreuzen, die Ukraine unter einem Vorwand anzugreifen, sagte Biden weiter. Falls Russland seine Pläne vorantreibe, wäre es für einen „katastrophalen“ Krieg verantwortlich.

Die Gefahr eines Angriffs Russlands auf die Ukraine sei „sehr real“, hieß es nach Beratungen Bidens mit zahlreichen Staatschefs, darunter dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, Deutschlands Kanzler Olaf Scholz, dem britischen Premier Boris Johnson, den Präsidenten Polens und Rumäniens sowie den Spitzen der EU und der NATO. Die „überwältigende Botschaft“ der Gespräche sei die der Einigkeit und der Entschlossenheit gewesen, so Biden. Ähnlich äußerten sich Deutschland und Frankreich.

Mit der angekündigten Evakuierung von 700.000 Einwohnern und Einwohnerinnen der Separatistengebiete nach Russland spitzte sich die Lage am Freitag zuvor erneut zu. Berichte über Kämpfe zwischen den von Russland unterstützten Abtrünnigen im Osten des Landes mit der ukrainischen Armee am Freitag unterstützten Befürchtungen, ein Angriff Russlands könne unmittelbar bevorstehen.

Separatisten verkünden „Generalmobilmachung“

Auch die andere Seite ist von einer Eskalation überzeugt – allerdings durch die Ukraine. Nach Angaben des Chefs der Donezker Separatisten, Denis Puschilin, steuert die Situation im Donbass auf einen Krieg zu. „Leider ja“, sagte Puschilin in einer Sendung des Fernsehsenders „Rossija 24“ auf eine entsprechende Frage. Am Samstag rief Puschilin zur „Generalmobilmachung“ auf. Er habe dazu bereits ein Dekret unterzeichnet. Er forderte die Bürger, die Reservisten seien, auf, „in die Einschreibebüros des Militärs zu kommen“.

Grafik zu den russischen Rebellengebieten in der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Am Freitag kam es in Donezk zu einer Explosion, wie die russische Agentur RIA berichtete. Laut Nachrichtenagentur TASS ist ein Auto explodiert, offenbar wurde niemand verletzt. Kurz zuvor hatten die dort regierenden Separatisten ihre Landsleute zur Ausreise nach Russland aufgefordert. Zuerst sollten „Frauen, Kinder und ältere Leute“ in Sicherheit gebracht werden, so Puschilin, der „inständig“ bat, die „massenhafte, zentralisierte Ausreise“ wahrzunehmen. In Absprache mit den russischen Behörden seien im benachbarten Gebiet Rostow im Süden Russlands Unterkünfte bereitgestellt worden. Auch für warmes Essen und medizinische Versorgung sei gesorgt, heißt es.

Die Luhansker Separatisten ordneten ebenfalls solche Maßnahmen an. Am späten Abend soll in ihrem Gebiet eine Gaspipeline explodiert sein, meldeten Interfax und RIA. Von russischen Medien verbreitete Bilder aus der Stadt Luhansk zeigten einen Feuerball, der den Abendhimmel erleuchtete. Laut RIA soll die Druschba-Pipeline in Luhansk explodiert sein.

Gefechte gehen weiter

Die Separatisten warfen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski vor, er wolle „in nächster Zeit“ eine Offensive starten. Puschilin sagte, dass die Kampftruppen bereit seien, das „Staatsgebiet“ gegen einen Angriff der Ukraine zu verteidigen. Kiew wies Angriffsvorbereitungen wiederholt „kategorisch“ zurück und vermutet hinter den Vorwürfen „russische Desinformationsberichte“. Die Separatisten lehnen der Agentur Interfax zufolge Gespräche mit Kiew ab.

Russland-Experte zu Ukraine-Konflikt

Russland-Experte Gerhard Mangott sieht durchaus eine Provokation Russlands im Osten der Ukraine – offen sei aber, was eine militärische Operation Russland bringe.

Am Donnerstag hatte eine starke Zunahme von Schusswechseln zwischen Separatisten und Regierungseinheiten international für Beunruhigung gesorgt. Im Konfliktgebiet kam es auch am Freitag nach Darstellung beider Seiten zu neuen Angriffen. Biden sagte, eine Provokation Russlands durch die Ukraine sei unlogisch. Es widerspreche „dem gesunden Menschenverstand, zu glauben, dass die Ukrainer diesen Zeitpunkt, an dem mehr als 150.000 Truppen an der Grenze stehen, wählen würden, um einen jahrelangen Konflikt zu eskalieren“, so Biden.

Es sei Tatsache, dass die russischen Truppen die Ukraine „umzingelt“ hätten, sagte der US-Präsident weiter. Etwa 40 bis 50 Prozent der russischen Truppen an der ukrainischen Grenze befinden sich nach Darstellung eines Insiders aus dem US-Verteidigungsministerium in „Angriffsposition“.

Beratungen auf Sicherheitskonferenz

Am Freitag war die Krise das vorherrschende Thema beim Auftakt der Münchener Sicherheitskonferenz. Hier wurde von westlichen Vertretern besonders vor Falschinformationen und womöglich inszenierten Anlässen für ein Eingreifen gewarnt. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sieht die Gefahr einer unkalkulierbaren Eskalation. Diese könne auch durch Kommunikationspannen und Fehlannahmen ausgelöst werden. Die Lage sei bedrohlicher als im Kalten Krieg.

US-Außenminister Antony Blinken warnte etwa vor „falschen Provokationen“ Russlands. Die Evakuierungen aus der Ostukraine seien zudem ein „zynisches“ Manöver, bei dem Menschen als „Unterpfand“ missbraucht würden, so ein Sprecher des US-Außenministeriums. Damit wolle Russland davon ablenken, dass es „seine Truppen in Vorbereitung eines Angriffs verstärkt“. Blinken soll kommende Woche seinen russischen Amtskollegen Sergej Lawrow treffen.

US-Außenminister Antony Blinken auf der Münchner Sicherheitskonferenz
Reuters/Ina Fassbender
Die Münchner Sicherheitskonferenz beschäftigt sich vorwiegend mit der Krise an der ukrainischen Grenze

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock fürchtet ebenfalls bewusst verbreitete Falschinformationen. Es gebe auch Berichte, dass die Menschen in den Separatistengebieten nicht in bereitgestellte Busse einsteigen wollten. In einer gemeinsamen Erklärung mit ihrem französischen Kollegen Yves Le Drian forderte sie Russland auf, mäßigend auf die prorussischen Separatisten einzuwirken. Man sei „höchst besorgt“ über den russischen Truppenaufmarsch und fordere Moskau zu einem „substanziellen Abzug“ militärischer Kräfte aus der Nähe der ukrainischen Grenze auf.

Putin bei Manövern

Russland ist zum ersten Mal seit 1991 nicht mit einer offiziellen Delegation bei der Sicherheitskonferenz vertreten. Kreml-Chef Putin will am Samstag stattdessen persönlich einem Manöver unter Einbeziehung „strategischer“ Streitkräfte beiwohnen. Putin, „Oberbefehlshaber der russischen Armee“, werde die „geplante Übung mit strategischen ballistischen Raketen und Marschflugkörpern beaufsichtigen“, teilte das russische Verteidigungsministerium laut Nachrichtenagenturen mit.

Das Manöver sei im Voraus geplant gewesen, teilte das Ministerium weiter mit. Das Präsidialamt merkte an, dass das Manöver nicht im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise stehe. Am Abend wurde dann noch ein weiteres Manöver mit strategischen Truppen und ballistischen Raketen unter Putins Aufsicht angekündigt.

Erneute Spannungen im Ukraine-Konflikt

Vor dem Hintergrund der angespannten Lage im Ukraine-Konflikt hat Russland für Samstag ein Militärmanöver unter Aufsicht von Präsident Wladimir Putin angekündigt.

Putin warnte auf einer Pressekonferenz am Freitag selbst vor einer Zuspitzung der Situation in der Ostukraine. „Im Moment sehen wir eine Verschlechterung der Lage.“ Außenminister Lawrow sagte, es würden dort auch Waffen eingesetzt, die gemäß dem Minsker Friedensprozess verboten seien. Lawrow warf zudem der OSZE-Sonderbeobachtungsmission laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Interfax vor, sie versuche, Verstöße gegen die Waffenruhe durch ukrainische Regierungstruppen zu beschönigen.

Russischer Abzug umstritten

Auch der Streit, ob Russland nun Soldaten von der ukrainischen Grenze abzieht oder nicht, ging am Freitag nahtlos weiter. Einige Soldaten seien nach dem planmäßigen Abschluss ihrer Militärübungen in ihre Garnisonen in der westrussischen Region Nischni Nowgorod zurückgekehrt, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Ebenfalls abgezogen worden sei militärisches Gerät, das Panzereinheiten im westlichen Militärdistrikt gehöre. Laut einer separaten Mitteilung des Ministeriums wurden auch zehn Kampfflugzeuge vom Typ Su-24 von der Schwarzmeer-Halbinsel Krim abgezogen, die Russland im Jahr 2014 annektiert hatte.

Satellitenbild zeigt russische Einheiten in Kursk
APA/AFP/MAXAR
Russische Truppenbewegungen in einem Manövergebiet im russischen Kursk von einem Satelliten aufgenommen

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin warf Russland hingegen wie zuvor auch andere westliche Politiker erneut vor, seine Truppen an der ukrainischen Grenze weiter aufzustocken. Die von Moskau angekündigte Verlegung von Soldaten in ihre Garnisonen sei bisher nicht erkennbar, sagte Austin am Freitag bei einem Besuch in Warschau. Die USA schätzen, dass Russland in und nahe der Ukraine möglicherweise bis zu 190.000 Militärangehörige im Einsatz hat. Ende Jänner seien es noch rund 100.000 gewesen. Die NATO erhöhte laut dpa die Einsatzbereitschaft der eigenen Streitkräfte.

Erneute Spannungen im Ukraine-Konflikt

Vor dem Hintergrund der angespannten Lage im Ukraine-Konflikt hat Russland für Samstag ein Militärmanöver unter Aufsicht von Präsident Wladimir Putin angekündigt. Auch Raketen sollen offenbar eingesetzt werden. Unterdessen gehen die Gefechte in der Ostukraine weiter. Der Westen warnt erneut vor einer Eskalation. Am Freitag findet außerdem die Sicherheitskonferenz in München statt, in der die Ukraine das Hauptthema ist.

Warnung vor Flüchtlingskrise

Der Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, warnte bei einer weiteren Verschärfung vor der Flucht zahlreicher Menschen in die Europäische Union. „Es wird geschätzt, dass zwischen 20.000 und mehr als eine Million Flüchtlinge kommen könnten“, sagte er der deutschen Zeitung „Die Welt“. Zudem gebe es derzeit rund 20.000 EU-Bürger, die in der Ukraine lebten und Unterstützung bei einer möglichen Ausreise benötigen dürften. Die EU sei auch bereit, eine „bedeutende humanitäre Hilfe zu mobilisieren und beim Zivilschutz zu helfen“.

Polens Regierung traf bereits erste Maßnahmen für den Fall eines „massiven Flüchtlingsstroms“, wie es aus Warschau hieß. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) sagte dazu im Ö1-Morgenjournal: „Wir werden solidarisch zueinanderstehen.“ Ob Österreich mit einer Migrationswelle aus der Ukraine konfrontiert werde, bezeichnete der Regierungschef als vorerst „theoretische“ Frage. Es gebe aber in allen zuständigen Ministerien entsprechende Vorbereitungen.

Am Nachmittag sagte Nehammer in Brüssel, Russland sende weiter „verschiedene“ Signale. „Es ist nach wie vor so, dass es eine Verwirrtaktik seitens der russischen Streitkräfte gibt, in der Frage Druck aufbauen an der Grenze und wieder zurücknehmen“. Die EU-Kommission halte auf jeden Fall das „Sanktionsregime auf Knopfdruck“ bereit. Wichtig sei aber, dass die Gesprächsdiplomatie weitergehe.