Raketenexplosion
AP/Alexander Zemlianichenko Jr
Johnson zu Ukraine

Warnung vor „größtem Krieg seit 1945“

Der britische Premierminister Boris Johnson hat angesichts der drohenden Eskalation in der Ukraine vor einem Krieg in der Dimension des Zweiten Weltkriegs gewarnt. EU-Ratspräsident Charles Michel appellierte für eine größere finanzielle Unterstützung der Ukraine und drohte Russland vor „massiven Sanktionen“. Die Zahl der Verletzungen des Waffenstillstands steigt indessen stetig.

„Ich muss leider sagen, dass der Plan, den wir sehen, vom Ausmaß her etwas ist, das wirklich der größte Krieg in Europa seit 1945 sein könnte“, sagte Johnson der BBC, die ihn am Wochenende bei der Sicherheitskonferenz in München interviewte. Er bezieht sich damit auf mutmaßliche russische Pläne für einen Angriff auf die Ukraine. „Wir müssen im Moment akzeptieren, dass Wladimir Putin möglicherweise nicht logisch denkt und das Desaster nicht sieht, das vor ihm liegt.“

Alles deutet darauf hin, dass der Plan in gewisser Weise schon begonnen hat", sagte Johnson, der in den vergangenen Tagen bereits sehr offensiv vor russischen „Operationen unter falscher Flagge“ gewarnt hatte. So werden bewusst inszenierte Aktionen bezeichnet, für die im Nachhinein andere – in diesem Fall ukrainische Kräfte – verantwortlich gemacht werden. Russland könne etwas inszenieren, um einen Vorwand für einen Einmarsch zu schaffen, so die Sorge.

Scharfe Sanktionen in Aussicht

„Die Leute müssen wirklich verstehen, wie viele Menschenleben betroffen sein könnten“, warnte Johnson in Bezug auf die drohende Eskalation und kündigte erneut scharfe Sanktionen für diesen Fall an. Großbritannien und die USA würden es russischen Unternehmen unmöglich machen, „in Pfund und Dollar zu handeln“, was diese schwer treffen werde.

Britischer Premier Boris Johnson
Reuters/Matt Dunham
Johnson: „Wir müssen im Moment akzeptieren, dass Wladimir Putin möglicherweise nicht logisch denkt“

EU-Außenbeauftragter Josep Borrell sagte am Sonntag in München, Europa müsse sich stärker auf neue Bedrohungen wie hybride Angriffe einstellen. Staaten wie Russland und China würden zurück in das Denken von Mächten im 19. Jahrhundert wollen. Die EU-Staaten müssten deshalb ihre Kräfte bündeln, wiederholt Borrell eine alte Forderung.

EU-Ratspräsident Charles Michel appellierte für eine größere finanzielle Unterstützung der Ukraine. Er habe zu einer Geberkonferenz für das Land aufgerufen, sagte Michel auf der Sicherheitskonferenz. Man habe bereits ein Paket in Höhe von 1,2 Milliarden Euro geschnürt. Die Ukraine solle näher an die EU herangeführt werden. Russland unterliege einer Fehlkalkulation, wenn es glaube, den Westen und die Ukraine schwächen zu können.

Michel sieht Zusammenhalt zementiert

Im Fall eines russischen Angriffs auf die Ukraine will Michel sofort einen Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschef einberufen. Man werde sicherstellen, dass vollständig geeint über Sanktionen entschieden werde, sagte er. In den vergangenen Wochen seien dafür unterschiedliche Szenarien vorbereitet worden.

Zu dem Bedrohungsszenario, das Russland mit seinem massiven Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine aufbaut, sagte Michel: „Sie haben gehofft, Zwietracht zu säen, unser Bündnis zu schwächen und uns zu spalten, aber sie haben genau das Gegenteil erreicht.“ Der Zusammenhalt sei zementiert worden – sowohl in der EU als auch über den Atlantik hinweg.

Andauernden Friedensangeboten an Russland erteilte er eine Absage. „Wir können nicht ewig einen Olivenzweig anbieten, während Russland Raketentests vornimmt und weiterhin Truppen aufstellt“, sagte Michel. Die große Frage bleibe: „Will der Kreml den Dialog?“

Militärübung in Weißrussland
Reuters/Belta
Entgegen vorheriger Ankündigungen setzt Russland sein Manöver in Belarus fort

Russische Truppen bleiben in Belarus

Belarus hat indessen eine Verlängerung der gemeinsamen Militärübungen mit Russland angekündigt. Wegen der „Zunahme militärischer Aktivitäten“ in der Nähe der belarussischen Grenze und aufgrund einer „Verschärfung der Situation im Donbass“ hätten Präsident Alexander Lukaschenko und sein russischer Kollege Putin beschlossen, die Militärübungen fortzusetzen. Russland hatte zuvor zugesichert, seine Soldaten nach dem planmäßigen Ende des Manövers an diesem Sonntag aus Belarus abzuziehen.

Anhaltende Gefechte in Ostukraine

Im Konfliktgebiet in der Ostukraine ist es in der Nacht auf Sonntag zu neuen Angriffen gekommen. Die Aufständischen in den Gebieten Luhansk und Donezk teilten in der Früh mit, seit Mitternacht seien mehrfach Dörfer beschossen worden. Auch die ukrainische Armee listete in der Früh mehrere Verstöße gegen den geltenden Waffenstillstand auf. Die jeweiligen Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Das Militär hatte bereits am Samstag von zwei getöteten Soldaten gesprochen. Nach Einschätzung internationaler Beobachter steigt die Zahl der Verletzungen des Waffenstillstands stark. In der Region Luhansk seien 975 Verstöße festgestellt worden, darunter 860 Explosionen, hieß es in einer Mitteilung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in der Nacht auf Sonntag. Für die Region Donezk wurden 591 Verstöße gemeldet, darunter 535 Explosionen. Diese Zahlen bezogen sich auf die Lage am Freitag.

Österreich schickt aufgrund der sich dramatisch eskalierenden Lage ein Krisenteam in das Land. Die Gruppe bestehe aus sieben erfahrenen Mitarbeitern des Außen-, Innen- und Verteidigungsministeriums, wie es am Sonntag in einer Aussendung des Bundeskanzleramts hieß.

Ukraine: Österreich schickt Krisenteam

Das Risiko eines Angriffs durch Russland wird von westlichen Vertretern weiterhin als hoch eingeschätzt. Dennoch gibt es weiterhin Bemühungen, um eine diplomatische Lösung zu finden. Der französische Präsident und EU-Ratspräsident Emmanuel Macron spricht am Sonntag mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Österreich entsendet derweil ein Team in die Ukraine, um Auslandsösterreichern bei der Ausreise behilflich zu sein.

Kontrollpunkte gesperrt

Das ukrainische Militär hat nach eigenen Angaben von Sonntagfrüh den Betrieb an einem der sieben Kontrollpunkte vorläufig eingestellt, über die man in Rebellengebiete im östlichen Donbass gelangt. Grund sei schwerer Beschuss. Die Sicherheit der zivilen Bevölkerung könne nicht garantiert werden. So lange „die Phase der Bedrohung“ anhalte, bleibe der Betrieb an dem Kontrollposten ausgesetzt. Vertreter der prorussischen Separatisten warfen wiederum der Ukraine in sozialen Netzwerken vor, von ihnen kontrollierte Gebiete zu beschießen.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) beklagte, dass durch Beschuss in den vergangenen Tagen mindestens zwei Pumpstationen im Gebiet Donezk ausgefallen seien. Diese versorgten mehr als eine Million Menschen mit Trinkwasser. „Wir sind sehr besorgt über die Entwicklungen in der Ostukraine“, sagte Florence Gillette, Leiterin der IKRK-Delegation in der Ukraine.

Selenski will nicht auf Provokationen reagieren

Die US-Regierung bekräftigte wiederum ihre Warnung vor einem Angriff Russlands auf die Ukraine. Die Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden gingen weiterhin davon aus, dass „Russland jederzeit einen Angriff auf die Ukraine“ starten könnte, teilte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, am Samstagabend mit. Biden beobachte die Entwicklungen. Für Sonntag sei eine Sitzung des US-Präsidenten mit dem Nationalen Sicherheitsrat angesetzt.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski betonte unterdessen in einem Telefonat mit Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron die Dialogbereitschaft seines Landes im Konflikt mit Russland. Wie es am Samstagabend aus dem Elysee-Palast hieß, habe Selenski in dem Gespräch außerdem zugesichert, nicht auf Provokationen moskautreuer Separatisten in der Ostukraine zu reagieren. Er habe sich entschieden geäußert, eine weitere Eskalation verhindern zu wollen.