Russlands Präsident Putin beim Sicherheitsrat in Moskau
Reuters/Sputnik
Berater als Kulisse

Putin allein auf weiter Flur

Was will der russische Präsident Wladimir Putin, und was treibt ihn zu seinen Entscheidungen? Diese in unzähligen Medien in den vergangenen Tagen wohl tausendfach gestellte Frage ist kaum, und wenn dann nur höchst spekulativ, zu beantworten. Die verstörende Inszenierung des Nationalen Sicherheitsrats am Montag gab aber Einblicke, wie Putin seine Entscheidungen trifft.

In Putins langer politischer Karriere an der Spitze Russlands gab es immer wieder Weggefährten und Berater, denen ein Einfluss auf ihn nachgesagt wurde. Wladislaw Surkow wurde etwa als graue Eminenz bezeichnet – und vor allem in der Ukraine-Frage als Drahtzieher im Kreml. Surkow galt als Scharfmacher und hielt, so Medienberichte, die direkten Kontakte zu den Rebellengruppen im Donbass.

Im Jänner 2020 verlor er sein Amt, wieso ist unbekannt. Der deutlich gemäßigtere Dmitri Kosak, einst Vizepremier, der sich seinerzeit politisch um die Olympischen Spiele in Sotschi kümmerte, übernahm die Ukraine-Agenda. Doch von ihm hörte man zuletzt wenig.

Sicherheitsrat als Schulstunde

Seitdem spekulieren westliche Medien, mit wem sich Putin berät und wer seiner Berater zu ihm durchdringen kann. Die „New York Times“ schrieb kürzlich, dass eigentlich niemand wisse, wie Putin seine Entscheidungen treffe und auf wen er höre. Die Zeitung listete dann seinen angeblich derzeit engsten Kreis auf – wie den Chef des russischen Auslandsgeheimdiensts SWR, Sergej Naryschkin, und den Sekretär des Sicherheitsrates, Nikolaj Patruschew. Doch genau diese – und viele weitere – führte Putin am Montag vor laufenden Kameras vor.

Im Jekaterinensaal des Moskauer Kreml hatte Putin den Sicherheitsrat einberufen. Selbst an einem Schreibtisch sitzend ließ er die gut 20 Männer und eine Frau in gehöriger Distanz stehen. Und fragte sie einzeln nach ihrer Meinung zur Vorgangsweise in der Ukraine. Was wie eine Beratung aussehen sollte, wirkte wie eine „bizarre Schulstunde im Innern der russischen Macht“, schrieb die "Neue Zürcher Zeitung“. Wie „nervöse Maturaprüflinge“ (Zitat APA) trat die Kreml-Elite vor das Mikrofon und beantwortete Putins Fragen – oder versuchte es zumindest.

Russlands Präsident Putin beim Sicherheitsrat in Moskau
AP/Sputnik Kremlin
Sicherheitsrat beim Rapport

Rüffel für falsche Antworten

Naryschkin sprach sich – wohl versehentlich – für eine russische Einverleibung der von der Ukraine abtrünnigen „Volksrepubliken Luhansk und Donezk“ aus. Putin korrigierte ihn und betonte, dass diese Frage nicht gestellt sei. „Darüber reden wir nicht. Das erörtern wir nicht. Wir sprechen über die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit oder nicht“, sagte Putin schroff. „Setzen Sie sich“, fügte er hinzu.

Patruschew und sein Geheimdienstchef Alexander Bortnikow zeichneten ein gefährliches Bild der Ukraine, diese wolle Russland zerstören. Doch auch Patruschew konnte es Putin damit nicht recht machen, auch er bekam seine Kritik ab. Wiederum andere machten einen eingeschüchterten Eindruck. Außenminister Sergei Lawrow wirkte kurzangebunden und unverbindlich, Regierungschef Michail Mischustin, der alle Hände voll zu tun hat, die wirtschaftliche Lage Russlands zu stabilisieren, sah verärgert aus und murmelte, dass er den Kurs unterstütze.

Symbol für zunehmende Isolation?

Ebenfalls dabei: Ein gewisser Dimitri Medwedew, immerhin früher selbst Präsident, allerdings als Platzhalter für Putin, da die damalige Verfassung eine längere Präsidentschaft verhinderte. Auch das wurde unterdessen repariert. Putin fragte dann noch in die Runde, ob jemand etwas gegen die Vorgangsweise habe. Es wurde laut geschwiegen. Übertragen wurde das Schauspiel auch im russischen Fernsehen, allerdings nicht live wie behauptet, sondern zeitversetzt. Beobachter entlarvten den Schwindel durch genaue Blicke auf die Uhren der Protagonisten, zudem wiederholten sich einige Fernsehbilder.

Die Szenerie legt jedenfalls den Schluss nahe, dass Putin selbst den inneren Machtzirkel als Kulisse sieht – und nicht als Berater, die ihm widersprechen oder seine Ideen diskutieren können. Die physische Distanz des Treffens, aber auch die überlangen Tische, an denen er sich selbst mit den eigenen Ministern trifft, seien „Zeichen seiner zunehmenden Isolation ohne Gleichgestellte“, schrieb der britische „Guardian“. Die „Moscow Times“ fühlte sich gar an King Lear und Bond-Bösewicht Ernst Stavro Blofeld erinnert, der Sicherheitsrat sei jedenfalls nur mehr Putins „Echokammer“. Das alles klingt nicht unüblich für Autokraten im fortgeschrittenen Stadium ihrer Herrschaft.

Russlands Präsident Putin mit Außenminister Sergei Lawrow
APA/AFP/Sputnik/Alexei Nikolsky
Nicht nur ausländische Regierungschefs müssen an langen Tafeln Platz nehmen, auch Außenminister Lawrow

Zurück zur alten Weltordnung?

Bei der Frage, was Putin bezweckt und antreibt, sind sich westliche Beobachter und Russland-Kenner recht einig. Es sei eine Mischung aus Nationalismus und Imperialismus. Zumeist wird Putins Aussage aus dem Jahr 2005 zitiert, als er den Zusammenbruch der Sowjetunion als die „größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“ bezeichnete.

Tatsächlich kann vieles an Putins Taten als Versuch interpretiert werden, die bipolare Weltordnung mit den Gegenspielern USA und Russland wieder herzustellen, zumindest aber sein Land wieder als Großmacht und großen internationalen und geostrategischen Player zu etablieren. Auch Putins Ausführungen und Verweise, zuletzt bei seinen Fernsehansprachen, auf Russlands „historisch gewachsenes“ Territorium legt nahe, dass er an vergangene Zeiten anknüpfen will. Zumindest sieht das aus westlicher Perspektive danach aus.

Biografie als Erklärung?

Um die Logik dahinter zu verstehen, wurde zuletzt auch versucht, Putin biografisch zu deuten. Die Historikerin Anne Applebaum verweist in einem viel zitierten „Atlantic“-Artikel etwa auf Putins Erfahrungen 1989. Beim Fall der Berliner Mauer sei er als KGB-Mitarbeiter in Dresden stationiert gewesen – und habe wie seine Kollegen wohl um sein Leben gefürchtet.

Diese persönliche Tragödie habe, so mutmaßt Applebaum, dafür gesorgt, dass Putin politischen Wandel, Proteste und Demokratie als Gefahr wahrnehme. Und deswegen bekämpfe er nicht nur demokratische Entwicklungen in Moskau: Das sei auch eine Erklärung, wieso Russland, über mehr oder weniger verschlungene Wege, Wahlen in den USA, aber auch in anderen Ländern zu sabotieren versuche und in Europa ultrarechte Gruppen und Parteien unterstütze.

Erfolg mit konstruierten „Wahrheiten“

Der Historiker Timothy Snyder wiederum verweist ebenfalls im „Atlantic“ darauf, wie der von Vorgänger Boris Jelzin aus dem Hut gezauberte und damals völlig unbekannte Putin den Anfang seiner politischen Karriere gemacht hatte – nämlich mit selbst konstruierten „Wahrheiten“. Für eine Reihe von Bombenanschlägen in Russland machte er – ohne Beweise – tschetschenische Terroristen verantwortlich und begann einen Krieg zur Unterwerfung der abtrünnigen russischen Region Tschetschenien. Und plötzlich seien seine Zustimmungswerte enorm gestiegen.

Solche Thesen mögen plausibel klingen, eine Psychologisierung von politischen Akteuren, vor allem per Ferndiagnose und aus US-Perspektive, der man Eigeninteressen nicht absprechen kann, bleibt aber schwierig.

Abrücken von Europa

Einen etwas anderen Blick präsentierte der in Schweden lehrende und in der Ukraine geborene Historiker Igor Torbakov im Onlinemagazin Eurozine. Er konstatiert der Führung und den nationalkonservativen Intellektuellen Russlands eine Abkehr von Europa. Die Idee, sich als Europäer zu sehen und nach europäischen Werten zu streben, wie das lange der Fall gewesen sei, werde jetzt zunehmend ad acta gelegt. Europa werde als dekadenter Westen gesehen und Russlands Fortschritt nicht mehr an seinen Bindungen zu Europa gemessen. Stattdessen versuche man, eine neue Identität und Eigenständigkeit zu kreieren.

Torbakov verweist auf einen Bericht, der unter anderen vom Politwissenschaftler Sergei Karaganow verfasst wurde: „Alles, was wir von Europa brauchten, haben wir bekommen“, heißt es dort. Russland sei historisch „ein autoritärer Staat“ und es sei „an der Zeit, sich nicht mehr dafür zu schämen, dass wir historisch einem autoritären System verbunden sind, nicht der liberalen Demokratie". Intellektuelle und andere laute Stimmen, die dem widersprechen, haben es in Russland nicht leicht. Ob die Bevölkerung, insbesondere die junge in den Städten, diese Ansicht teilt, bleibt abzuwarten.