Russische Panzer stehen auf Zügen aufgeladen
AP
„Hilfe“ des Kreml angefordert

Zeichen für russische Aktion verdichten sich

Die Eskalationsspirale rund um die Ukraine hat sich am Mittwoch drastisch weitergedreht. Die Führung der ostukrainischen Separatistengebiete in Donezk und Luhansk bat den russischen Präsidenten Wladimir Putin offiziell um „Hilfe“ gegen die ukrainische „Aggression“. Die Ukraine bereitet sich selbst intensiv auf einen drohenden Einmarsch russischer Truppen vor.

Russische Nachrichtenagenturen berichteten unter Berufung auf Kreml-Sprecher Dmitri Peskow von dem Hilfsansuchen an den Kreml. Demnach sagte Peskow, Luhansk und Donezk hätten Putin in einem Brief darum gebeten, ihnen bei der „Zurückschlagung der Aggression der Streitkräfte in der Ukraine“ zu helfen. „Die Handlungen des Regimes in Kiew bezeugen den Unwillen, den Krieg im Donbass zu beenden“, wurde das Schreiben zitiert.

Grundlage des Ersuchens seien die „Freundschaftsverträge“, die Putin und die Separatisten in dieser Woche geschlossen hatten. Donezk und Luhansk waren am Montag durch Putin anerkannt worden. Damit hatte er auch einem militärischen Eingreifen den Weg geebnet.

Eindringliche Warnungen

Die Warnungen vor einem möglichen Einmarsch Russlands in die Ukraine hatten sich am Mittwoch gehäuft. „Was wir sehen, ist, dass sich die russischen Streitkräfte weiter näher an der Grenze versammeln und sich in ein fortgeschrittenes Stadium der Handlungsbereitschaft versetzen, um praktisch jederzeit eine militärische Aktion in der Ukraine durchzuführen“, sagte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby am Mittwoch. „Wir glauben, dass sie bereit sind.“ Das US-Magazin „Newsweek“ berichtete, US-Präsident Joe Biden habe dem ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenski entsprechende Geheimdienstinformationen übergeben. Darin habe es geheißen, eine Invasion könne innerhalb der kommenden 48 Stunden beginnen.

Kuleba warnt vor einem Einmarsch Russlands

„Der Beginn eines großangelegten Krieges in der Ukraine wird das Ende der Weltordnung sein, wie wir sie kennen“, so der ukrainische Außenminister.

Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba warnte in seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung in New York eindringlich vor einem Einmarsch. „Der Beginn eines großangelegten Krieges in der Ukraine wird das Ende der Weltordnung sein, wie wir sie kennen“, sagte Kuleba am Mittwoch. Er berichtete außerdem davon, dass Russland auf der Krim einen möglichen Vorwand für eine Aggression gegen sein Land schaffen könnte. Demnach ist ein Chemiewerk auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel evakuiert worden. Das könnte die Vorbereitung für einen konstruierten Vorwand durch Russland für eine Aggression sein.

Kiew rief am Mittwoch erneut den UNO-Sicherheitsrat an. Man habe das mächtigste UNO-Gremium nach Montag nun ein zweites Mal um eine Dringlichkeitssitzung gebeten, schrieb Kuleba auf Twitter. Offiziell können nur Mitglieder des 15-köpfigen Rates Treffen beantragen. Es blieb Diplomaten zufolge unklar, ob es dazu am Mittwoch noch kommen wird.

Ukraine beginnt mit Einberufung von Reservisten

Der ukrainische Präsident Selenski forderte Sicherheitsgarantien für sein Land. Die Lage in der Ukraine hätte auch Auswirkungen auf Europa: „Wir teilen die Überzeugung, dass die Zukunft der europäischen Sicherheit gerade jetzt entschieden wird, hier in unserer Heimat, in der Ukraine“, sagte Selenski. Er wollte laut eigenen Angaben am Mittwoch mit Putin telefonieren. „Ich habe heute die Initiative für ein Telefongespräch mit dem Präsidenten der Russischen Föderation ergriffen. Das Ergebnis: Schweigen“, so Selenski in einer Ansprache an die Nation.

Die Ukraine begann am Mittwoch mit eigenen Vorbereitungen. Der Sicherheitsrat kündigte die Ausrufung des Ausnahmezustands für das ganze Land an. Er gilt ab Mitternacht, zunächst für 30 Tage. Möglich sind so unter anderem Ausgangssperren. Der Ausnahmezustand ermöglicht den ukrainischen Behörden auch verstärkte Ausweis- und Fahrzeugkontrollen.

Gleichzeitig wurde mit der Einberufung von Reservisten begonnen. Betroffen seien Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, heißt es in einer Erklärung der Streitkräfte. Die maximale Dienstzeit betrage ein Jahr. Präsident Selenski hatte die Einberufung am Dienstag per Dekret angeordnet, eine generelle Mobilmachung aber ausgeschlossen.

Die ukrainische Regierung rief zugleich alle Landsleute dazu auf, Russland zu verlassen. Das Außenministerium in Kiew veröffentlichte einen entsprechenden Hinweis, in dem auch vor Reisen nach Russland gewarnt wird.

Grafik zu russischen separatistischen Regionen in der Ukraine
Grafik: APA/ORF.at

Bericht über Konvois mit Militärgütern

In der Ostukraine gingen unterdessen die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Separatisten weiter. Untertags meldete die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), dass die Region Luhansk mit 1.224 „Verstößen gegen den Waffenstillstand“ besonders betroffen war, darunter 1.149 Explosionen. In der Region Donezk lag die Zahl bei 703 Verstößen, darunter 332 Explosionen.

Die Regierungstruppen verzeichneten nach eigenen Angaben einen Toten und sechs Verletzte. Die von Russland nun auch offen militärisch unterstützten Separatisten meldeten einen Toten und fünf verletzte Kämpfer. Zudem seien fünf Zivilisten getötet worden. Unabhängig überprüfen ließen sich diese Angaben nicht.
Am Mittwochabend berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, dass zwei Konvois mit Militärgütern von der russischen Grenze in Richtung Donezk fuhren.

Lage in Ostukraine spitzt sich zu

In der Ostukraine weiten sich die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Separatisten aus. Laut unüberprüfbaren Informationen sind mehrere Menschen auf beiden Seiten ums Leben gekommen. Während Russland an der Grenze zur Ukraine seine militärischen Aktivitäten verstärkt, hat Kiew den Ausnahmezustand erklärt. EU und USA verhängen Sanktionen gegen Russland.

EU-Sanktionen abgesegnet, Sondergipfel kommt

Die EU beschloss am Mittwoch auch formell die tags zuvor angekündigten Strafmaßnahmen gegen Russland. Diese wenden sich nicht nur gegen Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu, sondern auch gegen jene 351 Abgeordnete des russischen Parlaments, die für die Anerkennung der selbst ernannten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk gestimmt haben. Hinzu kommen Strafen gegen 27 weitere Personen und Organisationen. Angesichts der Eskalation kündigte EU-Ratspräsident Charles Michel einen Sondergipfel der Staats- und Regierungsspitzen für Donnerstag an.

Die EU kündigte auch ein zweites Sanktionspaket gegen Russland für den Fall an, dass russische Truppen über die von Separatisten gehaltenen ukrainischen Regionen hinaus vordringen. „Wenn es zu einer weiteren russischen Aggression und einem weiteren Eindringen in das ukrainische Territorium kommt, sind wir bereit, unsere Reaktion auch in Bezug auf Sanktionen zu verstärken“, sagte der Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, der Nachrichtenagentur Reuters.

US-Sanktionen gegen „Nord Stream 2“

Die USA verhängen angesichts der Eskalation auch Sanktionen gegen die Betreibergesellschaft der deutsch-russischen Erdgaspipeline „Nord Stream 2“. US-Präsident Joe Biden gab die Strafmaßnahmen gegen die in der Schweiz ansässige Nord Stream 2 AG und deren Geschäftsführung am Mittwoch bekannt. Deutschland hatte das höchst umstrittene Projekt am Dienstag auf Eis gelegt. Die in der Schweiz ansässige Projektgesellschaft gehört dem russischen Staatskonzern Gasprom. An der Finanzierung der Pipeline ist auch die österreichische OMV beteiligt.

Putin: Moskaus Interessen „nicht verhandelbar“

Erst am Mittwoch hatte Russlands Präsident Wladimir Putin in einer TV-Ansprache gesagt, dass er noch zur Suche nach „diplomatischen Lösungen“ bereit sei – gleichzeitig aber die Interessen seines Landes als „nicht verhandelbar“ bezeichnet. In der Rede anlässlich des Tages des Verteidigers des Vaterlandes bezeichnete er auch die „Sicherung der Verteidigungsfähigkeit unseres Landes“ als „wichtigste staatliche Aufgabe“.

Russland kündigte auch harte Gegenmaßnahmen als Reaktion auf die von den USA verhängten Sanktionen in der Ukraine-Krise an. „Es sollte kein Zweifel daran bestehen, dass es eine harte Antwort auf die Sanktionen geben wird, die nicht unbedingt symmetrisch, aber wohlkalkuliert und schmerzhaft für die amerikanische Seite sein wird“, so das russische Außenministerium am Mittwoch.