European Council in Brüssel
APA/AFP/Oliver Hoslet
Ukraine

EU einigt sich auf neue Russland-Sanktionen

Die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten haben am Donnerstag bei einem Sondergipfel einem umfangreichen Sanktionspaket gegen Russland zugestimmt. Es seien die „härtesten Sanktionen, die je beschlossen wurden“, wie es seitens der EU heißt. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) sprach indes bereits von einem dritten Sanktionspaket.

„Der Europäische Rat vereinbart heute weitere Strafmaßnahmen, die für Russland wegen seines Vorgehens massive und ernste Folgen haben werden“, hieß es in der am Donnerstagabend in Brüssel verabschiedeten Gipfelerklärung. Die Strafmaßnahmen betreffen unter anderem die Bereiche Energie, Finanzen und Transport. Zudem soll es Exportkontrollen für bestimmte Produkte sowie Einschränkungen bei der Visapolitik geben.

Die EU-Staats- und -Regierungschefs verständigten sich auf Finanzsanktionen gegen Moskau, die auf 70 Prozent des russischen Bankenmarkts abzielen. Große Banken sollen dabei von den EU-Finanzmärkten abgeschnitten werden. Sie sollen in der EU künftig kein Geld mehr ausleihen und auch kein Geld mehr verleihen können.

Zudem soll die Refinanzierung von russischen Staatsunternehmen in der EU verhindert werden. Ihre Aktien sollen nicht mehr in der EU gehandelt werden. Ähnliches ist für den Energiesektor geplant. Hier fordert der Rat die Kommission auf, entsprechende Notfallmaßnahmen im Energiebereich zu erarbeiten.

Kein Ausschluss aus SWIFT

Für Debatten sorgte ein möglicher Ausschluss aus dem internationalen Finanzsystem SWIFT – dieser kam letztlich aber nicht zustande. Ein Ausschluss hätte zur Folge gehabt, dass russische Finanzinstitute vom globalen Finanzsystem abgeschnitten würden, weil SWIFT das international wichtigste System zum Austausch von Informationen zu Transaktionen ist.

Nehammer zufolge hätte ein solcher Ausschluss die EU jedoch stärker getroffen als Russland selbst. Russland habe ein eigenes Zahlungssystem und würde bei einem Ausschluss „sofort“ auf chinesische Zahlungssysteme umsteigen, so die Argumentation, die wohl auch Italien, Deutschland, Zypern und Ungarn vertraten.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz begründete seine Haltung in Brüssel mit strategischen Erwägungen. Weitere Sanktionen müsse man sich „aufbehalten für eine Situation, wo das notwendig ist, auch noch andere Dinge zu tun“.

Im Gegensatz dazu sprachen sich mehrere Staats- und Regierungschefs für möglichst scharfe Strafmaßnahmen aus und nannten zum Teil auch SWIFT. So betonte der slowenische Ministerpräsident Janez Jansa, es müsse das schärfstmögliche Sanktionspaket beschlossen werden – inklusive SWIFT-Ausschluss. Und der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki sagte: „Wir müssen uns für massive Sanktionen einsetzen, für strenge Sanktionen gegen Putin, gegen Russland.“

Luftverkehr als Ziel

Bei den Sanktionen gegen den Transportsektor geht es vor allem darum, die russische Luftverkehrsbranche von der Versorgung mit Ersatzteilen und anderer Technik abzuschneiden. Damit könne man mit relativ kleinem Aufwand riesige Wirkung erzielen und sogar ganze Flotten stilllegen, hieß es am Donnerstag in Brüssel.

Die Exportkontrollen für Hightech-Produkte und Software sollen es auch anderen russischen Schlüsselindustrien schwermachen, sich weiterzuentwickeln. Dabei könne das Land mittel- und langfristig schwer getroffen werden, hieß es in Brüssel.

Die Einschränkungen bei der Visapolitik sollen sich gegen Russen richten, die bisher privilegierte Einreisemöglichkeiten in die EU hatten. Dazu zählen neben Diplomaten beispielsweise auch Geschäftsleute. Welche Personen genau auf die Liste kommen sollen, wird noch verhandelt.

Sanktionen auch gegen Belarus geplant

Eine förmliche Entscheidung über das von der EU-Kommission und dem Auswärtigen Dienst vorbereitete Sanktionspaket soll umgehend vom Ministerrat getroffen werden. Am Freitag sollen die EU-Außenministerinnen und -Außenminister bei einem Sonderministerrat das Prozedere finalisieren. Wie es vorab aus EU-Kreisen hieß, könnte das Sanktionspaket innerhalb von 24 Stunden in Kraft treten.

Sanktionen werden unterdessen auch für das Krisenland Belarus geplant. Denn durch das Zulassen russischer Truppen habe Belarus „wesentlich“ zu der Eskalation in der Ukraine beigetragen und sich „vollständig“ auf die Seite Russlands gestellt, konstatierte Nehammer. In der Erklärung heißt es dazu: „Der Europäische Rat fordert die dringende Ausarbeitung und Verabschiedung eines weiteren Pakets individueller und wirtschaftlicher Sanktionen, das sich auch auf Belarus erstrecken wird.“

Andrej Plenkovic und Karl Nehammer
AP/Geert Vanden Wijngaert
Aufgrund des Ausmaßes der Aggression kann es zu einem weiteren Sanktionspaket kommen

Nehammer erwartet drittes Sanktionspaket

Die Staats- und Regierungschefs forderten zudem die zuständigen Institutionen auf, umgehend mit Arbeiten an einem neuen Sanktionspaket zu beginnen. Auch Nehammer sagte, er rechne mit einem weiteren Sanktionspaket, „weil die Wucht der Aggression der Russischen Föderation weit über das hinausgeht, was damals schon erwartet worden ist, als die Sanktionen vorbereitet worden sind“.

Dieses werde sich dann „sehr zielgerichtet und intensiver an diejenigen richten, die im Kreml tatsächlich Macht und Einfluss haben“, so Nehammer. Von den derzeitigen Sanktionen seien vor allem Oligarchen betroffen. Generell sei bei Sanktionen jedoch immer auch Augenmaß und Verhältnismäßigkeit zu beachten.

Auf Nachfrage von ORF.at, wann ein drittes Paket in Kraft treten könnte, antwortete Nehammer, dass es auch hier aufgrund „komplexer Rechtsmaterien“ der Vorbereitung bedarf. Doch mit dem Beschluss des zweiten Sankionspakets werde bereits der Verhandlungsprozess für das dritte beginnen.

„Härtestes Sanktionspaket, das je beschlossen wurde“

Bereits Donnerstagfrüh kündigten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Außenbeauftragter Josep Borrell „massive“ und „zielgerichtete“ Sanktionen an. Borrell sprach vom „härtesten Sanktionspaket, das wir je implementiert haben“. Nach dem Krisengipfel betonte von der Leyen in einer Pressekonferenz die Einigkeit der EU-Staaten, was die Sanktionen betreffe: „Wir werden den Kreml zur Rechenschaft ziehen, das Paket zeigt deutlich, dass es maximale Wirkung haben wird.“

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Außenbeauftragter Josep Borrell
AP/Kenzo Tribouillard
Von der Leyen und Borrell sprachen von „massiven Sanktionen“

Von der Leyen: „Beginn einer neuen Ära“

Nach den rund sechstündigen Beratungen, zu denen auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski zugeschaltet wurde, betonte von der Leyen zudem die Einheit der EU. „Unsere Einigkeit ist unsere Stärke.“ Der russische Präsident Wladimir Putin versuche die Landkarte Europas neu zu zeichnen. „Er muss und er wird scheitern.“

Nehammer beschrieb die Situation in der Ukraine als dramatisch. „Putin hat jetzt mit Gewalt Fakten geschaffen.“ Die „Gewaltrhetorik“ Putins sei Teil der Legende des Angriffes und seines Narrativs. Die EU sei so geschlossen wie noch nie, „aus unserer Sicht hat sich die Russische Föderation und Präsident Putin klar verkalkuliert“. Man müsse ausloten, wie man wieder eine Gesprächsbasis zu Russland wiederherstellen könne.

EU-Spitzen verurteilen „beispiellose Aggression“

In einer gemeinsamen Erklärung der 27 EU-Staats- und -Regierungsspitzen heißt es: „Wir verurteilen die beispiellose militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine aufs Schärfste. Durch seine grundlosen und ungerechtfertigten Militäraktionen verstößt Russland massiv gegen das Völkerrecht und untergräbt die Sicherheit und Stabilität in Europa und weltweit.“

Die EU stehe in diesem Krieg fest an der Seite der Ukraine und ihrer Bevölkerung und werde ihr weiterhin politische, finanzielle und humanitäre Hilfe leisten. Mit den restriktiven Maßnahmen sollen Russland für sein Vorgehen nun „massive und schwerwiegende Konsequenzen“ auferlegen werden.

Putin telefoniert mit Macron

Auf die „massiven Sanktionen“ verwies auch der französische Präsident Emmanuel Macron bei einem Telefongespräch mit Russlands Staatschef. Macron habe Putin aufgefordert, die russischen Militäraktionen unverzüglich einzustellen. Die Initiative für das Telefonat sei von Paris ausgegangen. Der Kreml bestätigte das Gespräch und sprach von einem „ernsthaften und offenen Meinungsaustausch über die Lage in der Ukraine“. Putin habe ausführlich seine Gründe für den Einmarsch erläutert, hieß es in der Mitteilung weiter. Beide hätten vereinbart, in Kontakt zu bleiben.