Ein Panzer in Donetsk
Reuters/Alexander Ermochenko
Angriff auf die Ukraine

Russland bricht Krieg in Europa vom Zaun

Krieg in Europa: Russlands Präsident Wladimir Putin hat seine Truppen in eine großangelegte Offensive gegen die Ukraine geschickt. Die russischen Streitkräfte griffen das Nachbarland am Donnerstag aus mehreren Richtungen an. Anders als von vielen erwartet, beschränkte sich der Einsatz nicht nur auf die von Russland anerkannten „Volksrepubliken“. Gleichzeitig wächst die Angst, die Lage könne noch schlimmer werden.

Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs wurden bis Mittag mehr als 30 Angriffe mit Flugzeugen, Artillerie und Marschflugkörpern „auf ukrainische zivile und militärische Infrastruktur“ gezählt. Wie der Generalstab weiter mitteilte, seien der „Feind“ im Gebiet Tschernihiw, das im Nordwesten an Belarus grenzt, gestoppt worden. Laut eigenen Angaben verloren die ukrainischen Behörden die Kontrolle über Teile im Süden des Landes. Die russische Armee startete auch Offensiven von der Schwarzmeer-Halbinsel Krim in Richtung Cherson und Melitopol.

Ukrainischen Angaben zufolge eroberte Russland das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl. Die ukrainische Hauptstadt Kiew liegt nur knapp 70 Kilometer entfernt. Russland hatte betont, keine Flugzeuge, Raketen oder Artillerie gegen ukrainische Städte einzusetzen, sondern lediglich gegen militärische Infrastruktur, Luftverteidigung und Flugplätze vorzugehen. Bei einem Angriff auf den Flugplatz Hostomel – rund 30 Kilometer nordwestlich des Zentrums von Kiew – seien mindestens drei russische Hubschrauber abgeschossen worden, teilte das Verteidigungsministerium mit.

Russland startet Krieg in der Ukraine

In der Nacht auf Donnerstag hat Wladimir Putin der Ukraine den Krieg erklärt und einen Großangriff gestartet. Aus mehreren Städten wurden zivile Opfer gemeldet. Laut Berichten kommen Truppen in die Ukraine, aus dem Norden, Osten und auch aus dem Süden über die Krim-Halbinsel. Am Donnerstagabend haben russische Truppen Tschernobyl eingenommen.

Mehr als 100 Tote gemeldet

Nach Angaben des Sprechers des Ministeriums rückten die Separatistenkämpfer der Gebiete Donezk und Luhansk sechs bis acht Kilometer vor. Die russische Armee habe sie dabei unterstützt. Der Sprecher bestätigte die Eroberung des wichtigen Nord-Krim-Kanals. Dabei seien auch russische Fallschirmjäger zum Einsatz gekommen. Die Situation im Einsatzgebiet Donezk sei angespannt, werde aber von der Armee kontrolliert, heißt es in einem Bericht der ukrainischen Armee am Donnerstagabend (Ortszeit). Der Beschuss durch Russland dauere an.

Trotz umfangreicher Angriffe sei es „dem Feind“ nicht gelungen, aus dem Osten tief in die Ukraine vorzudringen. Alle wichtigen Siedlungen und wichtige Infrastruktur halte man weiter. Nach aktuellem Stand seien keine weiteren Versuche des Durchbruchs durch „den Feind“ registriert worden. An manchen Orten sei die Feueraktivität zurückgegangen. Die Berichte beider Seiten ließen sich kaum unabhängig überprüfen.

Laut Präsident Wolodymyr Selenski wurden 137 Menschen getötet. Außerdem seien 316 Menschen bei den Gefechten verletzt worden, sagte Selenski in der Nacht zum Freitag in einer Videoansprache. Auch die Separatisten meldeten Tote und Verletzte in den Reihen ihrer Kämpfer, aber auch unter der Zivilbevölkerung.

Generalstabschef Brieger zum Ukraine-Krieg

Generalstabschef Robert Brieger spricht über die aktuelle Lage beim Krieg in der Ukraine. Bis zuletzt haben Analysten auf eine diplomatische Lösung des Konflikts gehofft. Die Konfliktbereitschaft Putins sei von allen Seiten unterschätzt worden. Im Falle einer weiteren Eskalation des Konflikts würde Generalstabschef Brieger atomare Ausschreitungen ausschließen.

Putin kündigte an, Russland strebe eine Entmilitarisierung und „Entnazifizierung“ der Ukraine an. Der Kreml behauptete in den vergangenen Jahren immer wieder, 2014 hätten aus dem Ausland gesteuerte „Faschisten“ in Kiew einen Staatsstreich herbeigeführt. „Ich habe beschlossen, eine Sondermilitäroperation durchzuführen. Ihr Ziel ist der Schutz der Menschen, die seit acht Jahren Misshandlung und Genozid ausgesetzt sind“, sagte Putin in einer Fernsehansprache in der Nacht auf Donnerstag. Zeitgleich begann die Offensive. Für diese Vorwürfe hat er bisher keine Beweise vorgelegt.

Die Strategie von Wladimir Putin

Tschetschenien, Georgien, Transnistrien, Ukraine, Syrien: Die Liste der russischen Militärinterventionen in den letzten zwei Jahrzehnten ist lang. 2015 entsendet Russland zur Unterstützung von Baschar al-Assad Truppen nach Syrien. Wladimir Putin ist aber auch noch in andere Konflikte involviert.

Angst in Kiew

Aus Angst vor einem noch größer angelegten russischen Angriff auf die Ukraine flohen viele Menschen aus der Hauptstadt. Vor Bankautomaten in Kiew bildeten sich lange Schlangen. Fotos zeigten lange Autokolonnen. Andere versuchten, mit Zügen aus der Metropole zu flüchten. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR rief Nachbarländer der Ukraine auf, die Grenzen für Menschen, die Sicherheit und Schutz suchen, offen zu halten.

In Kiew wurde am Donnerstagnachmittag Luftalarm ausgelöst. Die Stadtverwaltung rief alle Bürger dazu auf, sich in Luftschutzbunkern in Sicherheit zu bringen. Die Hauptstadt hat etwa 2,8 Millionen Einwohner.

Tausende Menschen suchten in der Hauptstadt in U-Bahn-Stationen Schutz – Bürgermeister Vitali Klitschko hat die Bewohner dazu aufgerufen. Bilder aus der Großstadt Charkiw im Osten des Landes zeigten, wie auch dort Menschen mit Decken auf dem Boden einer Metrostation lagen. Viele hatten Wasserflaschen und Nahrungsmittel dabei.

Ukraine: Wehrschütz (ORF) zur Lage an Ort und Stelle

ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz ist aus der Ukraine zugeschaltet und spricht über die aktuelle Lage an Ort und Stelle. Russland hat in der Nacht auf Donnerstag einen Großangriff auf die Ukraine gestartet. Aus mehreren Städten wurden bereits zivile Opfer gemeldet. Laut Wehrschütz konnten ukrainische Truppen einige Vorstöße der russischen Truppen wieder zurückschlagen.

NATO schließt Eingreifen aus

Die US-Regierung geht davon aus, dass Russland die ukrainische Regierung in Kiew stürzen will. Es gebe unter anderem Kämpfe im Umkreis von rund 30 Kilometern der ukrainischen Hauptstadt sowie rund um die Großstadt Charkiw im Osten unweit der russischen Grenze, sagte ein führender Vertreter des US-Verteidigungsministeriums.

Nach Angaben von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg griff das russische Militär aus verschiedenen Richtungen an und attackierte militärische Infrastruktur sowie wichtige Ballungszentren. Stoltenberg sprach in Brüssel von Luft- und Raketenangriffen und einem Einsatz von Bodentruppen und Spezialkräften.

Die NATO schließt eine militärische Unterstützung der Ukraine weiter aus. Das westliche Verteidigungsbündnis aktivierte aber Verteidigungspläne für Osteuropa. Der Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte bekommt weitreichende Befugnisse, um zum Beispiel Truppen anzufordern und zu verlegen.

Generalmobilmachung in der Ukraine

Als Reaktion auf den Angriff brach die Ukraine die diplomatischen Beziehungen mit Russland ab. Präsident Selenski rief den Kriegszustand aus und forderte seine Landsleute auf, alles Nötige zu tun, um das Militär zu unterstützen. Mit Blick auf Putin sagte er: „Er will unseren Staat vernichten – alles, was wir aufgebaut haben, wofür wir leben.“ Am Abend ordnete Selenski eine allgemeine Mobilmachung an. Das Staatsoberhaupt habe ein entsprechendes Dekret unterschrieben, meldete die Agentur UNIAN unter Berufung auf das Präsidialamt in Kiew. Die Anordnung gilt demnach 90 Tage und sieht die Einberufung von Wehrpflichtigen und Reservisten vor.

Diplomat Brix zum Krieg in der Ukraine

Emil Brix, Direktor der Diplomatischen Akademie und ehemaliger österreichischer Botschafter in Moskau, spricht über den Ukraine-Krieg. Laut Brix gibt es auf beiden Seiten des Konflikts keine Kriegsbegeisterung und es ist auch noch nicht klar, wie hart die Sanktionen des Westens sein werden. Auf jeden Fall sei ein weiterer „Kalter Krieg“ zu befürchten.

Selenski forderte vom EU-Sondergipfel Unterstützung für eine UNO-Friedensmission in seinem Land. Das schrieb der Staatschef am späten Donnerstagabend auf seinem Telegram-Kanal. Er wiederholte andere Forderungen wie einen Ausschluss Russlands aus dem Zahlungssystem SWIFT und ein Embargo gegen russische Öl- und Gaslieferungen.

Appelle und Sanktionen

Die USA und die Europäische Union kündigten umgehend harte Sanktionen an. „Putin ist der Aggressor“, sagte US-Präsident Joe Biden in Washington. Nun werde sein Land die Folgen seines Handelns spüren. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten stimmten am Donnerstagabend bei einem Sondergipfel einem umfangreichen Sanktionspaket zu.

Die USA wollen zusammen mit ihren Verbündeten große russische Banken international isolieren. Zudem kündigte Biden strikte Exportkontrollen für den Technologiesektor und weitere Strafmaßnahmen gegen Mitglieder der russischen Elite an. Betroffen von den neuen Finanzsanktionen seien vier Kreditinstitute, die zusammen rund ein Drittel der russischen Vermögen hielten, sagte er. Die Banken würden damit vom US-Finanzmarkt und von Geschäften in US-Dollar ausgeschlossen.

Unterstützung erhielt Russland indes aus dem Iran. Präsident Ibrahim Raisi bezeichnete in einem Telefonat mit Putin die NATO-Osterweiterung als „Bedrohung“ und zeigte Verständnis für Russlands Sicherheitsbedenken. Die NATO-Erweiterung sei „eine ernsthafte Bedrohung der Stabilität und Sicherheit unabhängiger Länder in verschiedenen Bereichen“, wurde Raisi am Freitag von der iranischen Nachrichtenagentur IRNA zitiert.