Ukrainische Soldaten auf einer Brücke vor Kiew
Reuters/Gleb Garanich
Ukraine-Krieg

Kiew im Visier russischer Truppen

Die russischen Truppen sind am zweiten Tag der Invasion in die Ukraine bis in die Hauptstadt Kiew vorgedrungen und rücken weiter auf Odessa vor. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba berichtete von „schrecklichen russischen Raketenangriffen“ auf die Millionenstadt Kiew. Zehntausende Ukrainer und Ukrainerinnen sind auf der Flucht. Der Westen reagierte mit direkten Sanktionen gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinen Außenminister Sergej Lawrow.

Russland machte der Ukraine am Freitag nach Angaben des Kremls ein Angebot für mögliche Friedensverhandlungen in der belarussischen Hauptstadt Minsk. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski hatte Putin zuvor schon zweimal ein Treffen angeboten. Moskau habe den Vorschlag zu Verhandlungen über einen neutralen Status der Ukraine als Schritt in die richtige Richtung aufgenommen, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Freitagnachmittag. Zugleich waren die russischen Truppen weiter auf dem Vormarsch. Satellitenbilder zeigten größere Aufmärsche von Bodentruppen und Bodenhelikoptern im Süden von Belarus.

Im Süden der Ukraine hatten russische Truppen nach Überschreiten des Flusses Dnipro Zugang zur strategisch wichtigen Stadt Cherson. Die Stadt mit knapp 300.000 Einwohnern und Einwohnerinnen spielt eine wichtige Rolle beim Schutz der Hafenstadt Odessa im Südwesten des Landes. Aus Charkiw im Osten des Landes berichteten Medien und Anwohner von Explosionen. Im ganzen Land gab es Luftangriffe. In mehreren großen Städten, darunter Kiew, flüchteten die Menschen zum Schutz auch in U-Bahn-Stationen. Ukrainische Truppen rückten in Kiew ein, um die Hauptstadt zu verteidigen.

Ukrainische Soldaten auf einer Brücke vor Kiew
Reuters/Gleb Garanich
Ukrainische Soldaten auf einer Brücke in Kiew

Ukraine meldet über 130 getötete Soldaten

Russland hatte nach monatelangem Truppenaufmarsch an den Grenzen zur Ukraine am Donnerstag eine Offensive gestartet. Seit Beginn der großangelegten Invasion wurden auf ukrainischer Seite nach offiziellen Angaben mehr als 130 Soldaten getötet und über 310 verletzt.

Nach ukrainischen Angaben erlitten die russischen Truppen ihrerseits schwere Verluste. Bisher hätten die einrückenden Truppen 2.800 Soldaten „verloren“, teilte das Verteidigungsministerium in Kiew am Freitagnachmittag mit. Dabei war unklar, ob es sich um getötete, verwundete oder gefangene Soldaten handeln soll. Russland setzte nach eigenen Angaben 118 ukrainische Militärobjekte „außer Gefecht“ und schoss fünf ukrainische Kampfflugzeuge und einen Hubschrauber ab. Alle Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Einem russischen Militärsprecher zufolge eroberten die Russen das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl, knapp 70 Kilometer von Kiew entfernt. Spezialisten eines ukrainischen Wachbataillons seien aber nach Absprache weiter im Einsatz. Es gebe keine Auffälligkeiten, die radioaktiven Werte seien normal. Hingegen teilte die zuständige ukrainische Behörde mit, sie messe deutlich erhöhte Strahlenwerte. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) gab aber Entwarnung. Diese Strahlenwerte seien nicht gefährlich.

„Wir verteidigen unseren Staat allein“

Die Russen machten entgegen ihrer Zusicherung keinen Unterschied zwischen militärischen Zielen und Wohnhäusern, so Selenski. Zugleich hielt er dem Westen mangelnde Unterstützung vor: „Wir verteidigen unseren Staat allein. Die mächtigsten Kräfte der Welt schauen aus der Ferne zu.“

Selenski zeigte sich am Freitag mit weiteren ranghohen Politikern in einem Social-Media-Posting. Er sei gemeinsam mit Ministerpräsident Denys Schmyhal sowie den Chefs der Präsidialverwaltung und des Parlaments in der ukrainischen Hauptstadt. „Wir sind alle hier“, sagte er. Dazu schrieb er: „Wir sind in Kiew. Wir verteidigen die Ukraine.“ Damit reagierte Selenski, der wie die anderen Spitzenpolitiker ein Uniformhemd trägt, auf Gerüchte, er verstecke sich in einem Bunker oder habe die Stadt verlassen.

Nach eigenen Angaben telefonierte Selenski am Freitag erneut mit US-Präsident Joe Biden. In dem Telefonat sei es um „verstärkte Sanktionen, konkrete Verteidigungsunterstützung und eine Antikriegskoalition“ gegangen, twitterte er.

Proteste auch in Russland

Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind in der Ukraine schon 100.000 Menschen auf der Flucht. Die UNO rechnet mit bis zu vier Millionen Flüchtlingen, sollte sich die Situation weiter verschlechtern. Laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR flohen bereits Tausende in Nachbarländer. Die Ukraine hat etwa 42 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen. Erste Flüchtlinge erreichten am Freitag auch Wien – mehr dazu in wien.ORF.at.

Rund um den Globus gingen Demonstranten aus Solidarität auf die Straße. Gebäude und Monumente, darunter der Eiffelturm in Paris, wurden in den blau-gelben Farben der ukrainischen Flagge beleuchtet. Auch in Russland gab es zahlreiche Proteste. Dabei wurden Bürgerrechtlern zufolge mehr als 1.700 Menschen festgenommen. Am Freitag meldeten Bürgerrechtler erneut mehr als 400 Festnahmen bei weiteren Protesten in mehreren Städten in Russland.

Festnahmen bei Antikriegsdemos

In mehreren russischen Städten haben erneut Menschen gegen den Angriff auf die Ukraine demonstriert. Dabei wurden zahlreiche Menschen festgenommen.

Sanktionen gegen Putin und Lawrow

Die EU und die USA belegten Russland mit verschärften Sanktionen, verzichteten aber noch auf härteste Strafmaßnahmen. Die EU, die USA, Kanada und Großbritannien setzten Putin persönlich und Lawrow auf ihre Sanktionsliste. Strafmaßnahmen der EU gibt es auch mit Blick auf Energie, Finanzen und Transport. Zudem soll es Exportkontrollen für bestimmte Produkte sowie Einschränkungen bei der Visavergabe geben.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte nach einem Krisengipfel in Brüssel: „Unsere Einigkeit ist unsere Stärke.“ Mehrere Staats- und Regierungschefs forderten aber härtere Strafen, auch mit Blick auf das Bankenkommunikationsnetzwerk SWIFT. Ein SWIFT-Ausschluss hätte zur Folge, dass russische Institute quasi vom globalen Finanzsystem ausgeschlossen würden.

Schaidreiter (ORF) zu den EU-Sanktionen

Raffaela Schaidreiter über die bisherigen Sanktionen der EU gegen Russland nach dem Einmarsch in der Ukraine.

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) wandte sich dagegen, dieses Sanktionsinstrument jetzt schon einzusetzen. Österreich erklärte sich am Freitag nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats nach anfänglicher Ablehnung nun doch einverstanden, einem SWIFT-Ausschluss Russlands zuzustimmen, wenn es eine Einigung dazu auf EU-Ebene gibt.

NATO verlegt schnelle Eingreiftruppe

Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten besprachen am Freitag, wie das Bündnis auf die veränderte Sicherheitslage reagieren muss. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief Russland zu einem Ende des Militäreinsatzes auf. „Moskau trägt die alleinige Verantwortung für die vorsätzliche, kaltblütige und von langer Hand geplante Invasion“, erklärte er.

Die NATO verlegt zur Abschreckung Russlands Einheiten ihrer schnellen Einsatztruppe NATO Response Force (NRF). Dabei soll es sich um Tausende Soldaten handeln, die auf dem Land, auf der See und in der Luft im Einsatz sein sollen. Stoltenberg nannte keine Details über den Ort der Verlegung. Die Staats- und Regierungschefs der 30 Mitgliedstaaten betonten in einer Erklärung, die Maßnahmen seien „präventiv, verhältnismäßig und nicht eskalierend.“

Russen dringen weiter vor

Russlands Angriffe auf die Ukraine setzen sich fort. Mittlerweile haben die russischen Truppen die ukrainische Hauptstadt Kiew erreicht. Die Ukrainer zeigen sich kampfbereit.

Der Europarat suspendierte unterdessen in einem historischen Schritt Russlands Mitgliedschaft infolge des Angriffs auf die Ukraine. Russland bleibt dennoch formell Mitglied des Europarats, der gemeinsam mit seinem Gerichtshof für die Wahrung der Menschenrechte in den 47 Mitgliedstaaten zuständig ist.

Lawrow: „Niemand wird die Ukraine besetzen“

Der Kreml verteidigte seinen Militäreinsatz gegen weltweite Kritik. Außenminister Lawrow sagte, der Zweck des Einsatzes sei eine „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ und fügte hinzu: „Niemand wird die Ukraine besetzen.“ Der Kreml behauptet seit Jahren, 2014 hätten aus dem Ausland gesteuerte „Faschisten“ in Kiew einen Staatsstreich herbeigeführt.

Putin rief die ukrainische Armee zum Kampf gegen die Regierung auf. „Nehmt die Macht in Eure eigenen Hände! Es dürfte für uns leichter sein, uns mit Euch zu einigen, als mit dieser Bande von Drogenabhängigen und Neonazis, die sich in Kiew niedergelassen hat und das gesamte ukrainische Volk als Geisel genommen hat“, sagte Putin. Er lobte das Vorgehen der russischen Armee.