Der russische Dirigent Valery Gergiew
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Kritik und Schweigen

Wie Russlands Kultur auf den Krieg reagiert

Der Krieg in der Ukraine erschüttert auch die Kulturwelt. Anna Netrebko kündigte am Dienstag an, für Monate keine Konzerte zu spielen. Ebenfalls am Dienstag hatte die Münchner Philharmonie dem putinfreundlichen Dirigenten Valery Gergiev das Engagement aufgekündigt. Indessen mehrt sich der Protest russischer Kulturschaffender: Zahlreiche Autoren, Schauspieler und Musiker, darunter Kirill Petrenko und Ljudmila Ulitzkaja, verurteilten den Krieg scharf.

Netrebko sagte am Dienstag alle Konzerte für die kommenden Monate ab. „Nach reiflicher Überlegung habe ich die äußerst schwierige Entscheidung getroffen, mich bis auf Weiteres aus dem Konzertleben zurückzuziehen“, ließ die weltberühmte russische Opernsängerin über den Veranstalter River Concerts mitteilen.

„Es ist nicht die richtige Zeit für mich aufzutreten und zu musizieren. Ich hoffe, dass mein Publikum diese Entscheidung verstehen wird“, heißt es in dem Statement weiter. Das für 2. März in der Hamburger Elbphilharmonie geplante Konzert mit ihrem Ehemann Yusif Eyvazov wird auf den 7. September verschoben.

Nachdem die Mailänder Scala dem putinfreundlichen Maestro Gergiev am Montag das Dirigat entzogen hatte, verzichtete Netrebko zunächst nur auf ihren dortigen Auftritt. Ihre Absage begründete die Sängerin, die sich selbst als nicht politisch bezeichnete, politisch: „Es ist nicht richtig, Künstler oder andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu zwingen, ihre politische Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern und ihr Heimatland anzuprangern. Dies sollte eine freie Entscheidung sein.“

„Ich möchte, dass dieser Krieg aufhört“

Erst am Wochenende hatte sich Netrebko auf Instagram als Kriegsgegnerin deklariert, allerdings darauf verzichtet, sich allzu sehr zu exponieren: „Ich bin eine Russin und liebe mein Land, aber ich habe viele Freunde in der Ukraine, und der Schmerz und das Leid brechen mir das Herz. Ich möchte, dass dieser Krieg aufhört und die Menschen in Frieden leben können. Das erhoffe ich mir und dafür bete ich“, so die weltberühmte Opernsängerin.

Auf alle Auftritte außerhalb Russlands verzichtet auch Gergiev. Bis Mitternacht war das Ultimatum gelaufen, das der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter gegenüber dem Dirigenten jüngst ausgesprochen hatte. Gergiev habe sich trotz der Aufforderung, „sich eindeutig und unmissverständlich von dem brutalen Angriffskrieg zu distanzieren“, nicht geäußert, begründete Reiter am Dienstagvormittag den Rauswurf.

Schon letzte Woche hatten ihm die Wiener Philharmoniker und die Carnegie Hall für eine geplante New Yorker Konzertserie eine Absage erteilt, es folgte eine Ausladung des Schweizer Lucerne Festivals im Sommer und erst am Montag der Mailänder Scala.

Andere prominente Kollegen positionierten sich hingegen unmissverständlich gegen den russischen Krieg: Petrenko, der austrorussische Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, sprach von einer Invasion, die „ein Messer in den Rücken der ganzen friedlichen Welt“ sei. Schockiert zeigten sich auch Semjon Bytschkow, Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie, und Wladimir Jurowski, Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper.

Die russische Sopransängerin Anna Netrebko
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Starsopranistin Anna Netrebko, die 2012 die Wahl Putins unterstützte, distanzierte sich via Instagram vom Krieg.

„Wir können nicht sagen: Wir sind einfach nur Musiker und spielen Musik. Wir müssen uns nicht gegen ein bestimmtes Land oder eine Regierung, sondern gegen einen Krieg positionieren, und das so lautstark wie möglich“, so der russischstämmige Jurowski, der mit seinen Konzerten letztes Wochenende in Berlin gleich ein Statement setzte.

Statt russischer Werke – geplant war der Slawische Marsch Tschaikowskys – ließ der sichtlich gerührte Dirigent die Berliner Philharmonie zu Konzertbeginn die ukrainische Nationalhymne anstimmen. In dieselbe Kerbe schlug der russisch-deutsche Starpianist Igor Levit, der ein Brüsseler Schostakowitsch-Konzert am Sonntag ebenfalls mit der ukrainischen Hymne startete.

Offener Brief von Tausenden unterschrieben

Auch abseits der klassischen Musikszene wird der Protest unter Kulturschaffenden immer lauter. „Wir alle sind nun in der Hölle angekommen“, schrieb der russische Autor Viktor Jerofejew am Wochenende in einem „FAZ“-Gastbeitrag. „Schmerz, Angst, Scham – das sind die Gefühle von heute“, meinte seine Autorenkollegin Ljudmila Ulitzkaja am Tag des Kriegsbeginns. „Das ist ein politisches Verbrechen, das später in Geschichtsbüchern auch so beschrieben sein wird“, so die auch in Österreich viel gelesene Autorin, die 2014 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur erhielt, weiter.

Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja
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Die Moskauer Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja wandte sich bereits am Freitag mit scharfer Kritik an die Öffentlichkeit

Laut „Süddeutscher Zeitung“ haben mittlerweile Tausende Künstler und Architektinnen, Kuratoren und Galeristinnen, Kunsthistoriker und Fotografinnen aus dem ganzen Land Petitionen unterschrieben – darunter auch der Autor Wladimir Sorokin, die Schauspielerin Tschulpan Chamatowa und der Schriftsteller Dmitri Bykow. Russland habe einen unabhängigen benachbarten Staat überfallen. „Wir rufen alle Bürger Russlands auf, Nein zu sagen zu diesem Krieg“, heißt es in einer Erklärung.

Verschiedene Formen der Repression

Dem Appell an ihre Landsleute steht die ernüchternde Gegenwartsdiagnose der „Public Intellectuals“ gegenüber: Jerofejew beklagt eine circa neunzigprozentige Zustimmung der Bevölkerung zu Putin. „Unsere Gesellschaft befindet sich in tiefster Apathie, Niedergeschlagenheit und Angst“, so Ulitzkaja, die offene Proteste in der russischen Gesellschaft kaum erwartet.

„Kafkaeske Disclaimer“ beim Hörfunk

Und dennoch, trotz eines strikten Demonstrationsverbots wagen seit Tagen immer wieder Menschen, auf die Straße zu gehen. Bürgerrechtler gehen davon aus, dass inzwischen mehr als 3.000 Demonstranten festgenommen wurden. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete, zeigt sich der repressive Umgang mit Kritik mittlerweile auch in Form von „kafkaesken Disclaimern“: Die russische Medienaufsicht Roskomnadsor verbietet es etwa, von einem „Krieg“ anstelle einer „Spezialoperation“ zu schreiben.

Der russische Rockmusiker Juri Schewtschuk
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Auch der Rockstar Juri Schewtschuk rief via Instagram zum Frieden auf: „Furcht und Schmerz. Nein zum Krieg".

In der Folge sei zwar ein Statement der russischen Kinderbuchautoren gegen den Krieg beim russischen Sender Echo Moskwy zu lesen gewesen. Allerdings war dieses mit dem Zusatz versehen, dass die darin enthaltenen Informationen über Kriegshandlungen und den Tod von ukrainischen Zivilisten „infolge der Handlungen der russischen Armee“ für „nicht der Wirklichkeit entsprechend“ gehalten werden und die Roskomnadsor die Begriffe „Angriff“, „Invasion“ oder „Krieg“ ablehne. Womit genannt wurde, was eigentlich nicht genannt werden sollte.

Absage Venedig-Pavillon und Schließung der „Garasch“

Einige Kulturschaffende wollen es indes nicht nur bei verbalen Abgrenzungen belassen: So erklärten der Künstler Kirill Sawtschenkow und der lettische Kurator Raimundas Malasauskas am Sonntag via soziale Netzwerke, dass die politische Situation in der Ukraine sie dazu veranlasst habe, den russischen Pavillon auf der diesjährigen Venedig-Biennale nicht wie geplant zu bespielen.

„Es gibt keinen Platz für Kunst, wenn Zivilisten unter dem Beschuss von Raketen sterben, wenn sich ukrainische Bürger in Bunkern verstecken und wenn russische Demonstranten zum Schweigen gebracht werden“, schrieben sie. „Der russische Pavillon wird geschlossen bleiben“, erklärten unterdessen auch die Veranstalter in einem Instagram-Beitrag. Die Biennale startet am 23. April.

Zuvor hatte bereits die „Garasch“, das Moskauer Museum für Zeitgenössische Kunst, erklärt, es werde seine Arbeit einstellen und bis zum Ende der „menschlichen und politischen Tragödie“ in der Ukraine alle Ausstellungen verschieben. Man wolle nicht die „Illusion von Normalität“ unterstützen. Die vor allem auf internationale Gegenwartskunst spezialisierte „Garasch“ verschob unter anderem Ausstellungen des Österreichers Heimo Zobernig und der deutschen Künstlerin Anne Imhof.

Abgesagt wurde auch die Ausstellung „Chronicles of Isolation“ des staatlichen Kunstmuseums MIRA in der sibirischen Stadt Krasnojarsk. Der französische Maler Emmanuel Bornstein und der russische Künstler Wladimir Potapow wollen aus Protest gegen den russischen Einmarsch keine Kunst zeigen.

Verdruckstes Statement aus der Eremitage

Laut dem „Monopol“-Magazin setzte auch das Privatmuseum GES-2 eine „Reihe von Programmen und Aktivitäten“ aus. Die mit 20.000 Quadratmeter riesige Institution, die erst vor wenigen Wochen eröffnet wurde, fand in ihrer Erklärung jedoch nur verhaltene Wort und begründete die Absagen mit den „aktuellen tragischen Ereignissen“.

Für ein verdruckstes Statement sorgte laut einem „Spiegel“-Artikel auch der Direktor der berühmten Eremitage in Sankt Petersburg, Michail Piotrowski. Piotrowski erwähnte weder den Krieg noch Putin, sondern schrieb: „Liebe Freunde, die Welt ist verrückt geworden, und sie wird nie wieder dieselbe sein. Die Dinge, die jetzt geschehen, sind unbegreiflich, sie sollten niemals geschehen …“ Offenbar sei die Sorge groß, die Gunst ausländischer Förderer zu verlieren, mutmaßte die deutsche Zeitung.

Die Theaterdirektorin Elena Kowalskaja bezeichnete Wladimir Putin hingegen offen als „Mörder“ und zog die Konsequenzen: Am Freitag kündigte sie ihren Rücktritt als Direktorin des Staatlichen Moskauer Vsevolod-Meyerhold-Theaters und -Kulturzentrums an. Auch Moskauer Bars wie die „Strelka Bar“, Clubs wie „Powerhouse“ und unabhängige Kultureinrichtungen wie „Bumaschnaja Fabrika“ verlautbarten, für die Dauer des Krieges keine Konzerte mehr zu geben oder zumindest ihre Einnahmen zu spenden.

Pussy Riot mit NFT-Spendenaktion

Als Organisatorin von Spenden hat sich prompt auch Pussy Riot-Gründungsmitglied Nadja Tolokonnikowa ins Zeug gelegt. Am Wochenende rief Tolokonnikowa die Organisation DAO ins Leben, die 10.000 NFTs („non-fungible tokens“) der ukrainischen Flagge verkauft, um Gelder für ukrainische zivile Organisationen zu sammeln. Dem Monopol-Magazin zufolge wurden am Wochenende bereits mehrere Millionen Dollar an Spendengeldern lukriert.