Flüchtlinge warten am grenzübergang zu Polen
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Flucht aus der Ukraine

Lange Schlangen vor Grenzübergängen

Fast 700.000 Menschen haben nach Angaben der Vereinten Nationen seit Beginn der russischen Invasion am Donnerstag die Ukraine in Richtung Nachbarländer verlassen. Bei der Einreise nach Polen gibt es kilometerlange Schlangen, und Menschen müssen bis zu 60 Stunden warten, obwohl sich die Wartezeiten laut der Regierung in Warschau verkürzt haben.

Die Warteschlangen vor der Grenze nach Rumänien seien bis zu 20 Kilometer lang, hieß es von der UNO Die meisten Menschen flüchten Richtung Westen in Nachbarländer wie Polen, Ungarn und die Slowakei. Die Zahl der Flüchtlinge steige „exponentiell“, sagte eine Sprecherin des UNO-Flüchtlingshilfswerkes (UNHCR) in Genf.

Bereits 677.000 Menschen seien von der Ukraine in Nachbarländer geflüchtet. Rund die Hälfte sei in Polen angekommen, sagte der UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, am Dienstag in Genf. Rund 90.000 seien in Ungarn und Zehntausende in anderen Nachbarländern wie Moldawien, der Slowakei und Rumänien. Innerhalb von 24 Stunden sei die Gesamtzahl um 150.000 gestiegen, so Grandi Dienstagnachmittag.

Autoschlange vor der Grenze zu Polen
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Eine Autoschlange in der Ukraine vor der Grenze zu Polen

UNO braucht 1,5 Mrd. Euro für humanitäre Hilfe

Die Menschen, die bisher geflüchtet seien, hätten vermutlich überwiegend Familien oder Freunde in den Nachbarländern und vor allem die Mittel zur Flucht, sagte Grandi. Er mache sich große Sorgen um die anderen, die in den nächsten Tagen und Wochen sicher auch Hilfe brauchten. Die Vereinten Nationen starteten einen Spendenaufruf: Sie brauchen nach eigenen Angaben knapp 1,5 Milliarden Euro für humanitäre Hilfe im Ukraine-Krieg.

Das UNO-Nothilfebüro (OCHA) teilte mit, die Hilfsorganisationen der UNO benötigten 1,1 Milliarden Dollar (980 Mio. Euro) für ihre Arbeit innerhalb der Ukraine, mit der sechs Millionen Menschen für drei Monate unterstützt werden sollen. Weitere 551 Millionen Dollar (492 Mio. Euro) würden für Flüchtlinge außerhalb des Landes gebraucht.

Flüchtlinge aus der Ukraine in Rumänien
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Aus der Ukraine geflüchtete indische Studenten und Studentinnen in einer Notunterkunft in Polen

Die Vereinten Nationen schätzen, dass zwölf Millionen Menschen innerhalb der Ukraine Hilfe und Schutz benötigen werden, während mehr als vier Millionen ukrainische Flüchtlinge in den kommenden Monaten in Nachbarländern versorgt werden könnten. „Das ist die dunkelste Stunde für die Menschen in der Ukraine. Wir müssen unsere Reaktion jetzt intensivieren, um das Leben und die Würde der Ukrainer zu schützen“, sagte OCHA-Chef Martin Griffiths.

Ukraine-Flüchtlinge auch aus Nicht-EU-Ländern

In Polen sind nach Angaben des Grenzschutzes seit Beginn des Krieges letzte Woche mehr als 377.400 Flüchtlinge aus dem Nachbarland angekommen. Allein am Montag hätten 100.000 Menschen die Grenze überquert, teilten die polnischen Grenzschützer am Dienstag per Twitter mit.

Polens Regierung stelle sich auf die Aufnahme von bis zu einer Million Flüchtlingen aus der Ukraine ein, sagte Außenminister Zbigniew Rau am Dienstag nach einem Treffen mit seinem französischen Amtskollegen Jean-Yves Le Drian und der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock in Lodz.

Flüchtlinge aus der Ukraine in Berlin
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Flüchtlinge aus der Ukraine sind via Polen in Berlin mit dem Zug angekommen

Polen verspricht jeden aufzunehmen

Der Großteil der Schutzsuchenden seien Ukrainer und Ukrainerinnen, so Rau weiter. Polen habe aber Staatsbürger und Staatsbürgerinnen aus insgesamt 125 verschiedenen Ländern aufgenommen, darunter viele Studenten und Studentinnen aus Nicht-EU-Ländern, die an ukrainischen Universitäten eingeschrieben sind. „Jeder, der in Sorge um sein Leben und seine Gesundheit die polnische Grenze überschreitet, wird aufgenommen und mit Essen und Unterkunft versorgt“ betonte Rau.

Bereits seit vielen Jahren lebe eine große Gruppe von geschätzt 1,5 Millionen Ukrainern und Ukrainerinnen in Polen, um dort zu studieren oder zu arbeiten. Viele der Flüchtlinge, die in den vergangenen Tagen nach Polen gekommen seien, zählten auf die Hilfe der dort bereits ansässigen Verwandten oder Bekannten. Die meisten hofften, dass sie nach einigen Wochen in ihr Heimatland zurückkehren könnten, sagte Rau.

Selenski-Berater: Russland setzt auf Massenpanik

Die Warteschlangen vor der Abfertigung auf der ukrainischen Seite der Grenze hätten sich verkürzt, da sich Polens Regierung und Präsident Andrzej Duda beim ukrainischen Grenzschutz für eine Vereinfachung der Prozedur eingesetzt hätten, sagte ein Regierungssprecher in Warschau. Frauen und Kinder würden jetzt praktisch ohne Kontrolle durchgelassen.

Mit den Attacken auch auf Zivilisten hofft der Kreml offenbar eine größere Fluchtbewegung aus dem Land auszulösen und damit die Nachbarländer unter Druck zu setzen. Einem Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski zufolge nimmt Russland bewusst Wohngebiete und Innenstädte unter Beschuss. „Russlands Ziel ist klar – Massenpanik, zivile Opfer und zerstörte Infrastruktur.“

Überfüllte Züge auf Bahnhof Lwiw

Auf dem Bahnhof in Lwiw versuchen zahlreiche Menschen, in einem der überfüllten Züge Platz zu bekommen, um die Stadt schnellstmöglich verlassen zu können.

Familien erzählen von der Flucht

In Österreich angekommene Flüchtlinge schilderten ihre Flucht und die dramatischen Erlebnisse in ihrer Heimat. So erzählte eine Familie, die nun in Großhöflein im Burgenland Unterkunft gefunden hat, dass vor allem die Kinder Angst hätten. So brach etwa am Grenzübergang zu Polen Chaos aus. Die zwei Erwachsenen und die sechs Kinder mussten in bitterer Kälte warten. An der Grenze seien zu viele Leute gewesen. Auch die Zahl der registrierten ukrainischen Flüchtlinge am Grenzübergang Nickelsdorf ist bereits merkbar angestiegen. Das Burgenland bereitet sich vor, die Nova Rock Halle in Nickelsdorf soll etwa ein Sammelquartier werden – mehr dazu in burgenland.ORF.at.

Drei Tage waren ein gebürtiger Linzer und seine ukrainische Frau mit ihrem kleinen Sohn von der Ukraine nach Oberösterreich unterwegs – mehr dazu in ooe.ORF.at. In Salzburg seien ebenfalls die ersten Flüchtlinge aus der Urkraine angekommen, wie es am Dienstag hieß. Die zehn bis 15 Personen, darunter auch Kinder, kamen laut ersten Informationen bei Verwandten unter – mehr dazu in salzburg.ORF.at.

Flüchtlinge aus der Ukraine in Polen
AP/Markus Schreiber
Flüchtlinge aus der Ukraine kommen in Polen an

Auch direkte Hilfe aus der Bevölkerung für die Ukraine gibt es. So seien etwa Hilfstransporte aus dem Burgenland auf dem Weg in die Ukraine bzw. schon angekommen, wie es am Dienstag hieß – mehr dazu in burgenland.ORF.at. Das Rote Kreuz Niederösterreich schickt Feldbetten für die Flüchtlinge in die polnische Hauptstadt Warschau – mehr dazu in noe.ORF.at.

Flüchtlinge aus der Ukraine in Polen
Reuters/Kai Pfaffenbach
Flüchtlinge aus der Ukraine trotzen in Polen der Kälte

EU: Dreijähriges Bleiberecht für ukrainische Flüchtlinge

Die Europäische Union plant unterdessen, Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine ein Bleiberecht von bis zu drei Jahren zu gewähren. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson zufolge haben die meisten Innenministerinnen und -minister ihre Unterstützung für den Schritt zum Ausdruck gebracht. Die Ministerinnen und Minister werden sich am Donnerstag erneut treffen, um sich auf die Details zu einigen.

Spendenaufruf

Der ORF und die Stiftung Nachbar in Not bitten um Spenden – mehr dazu in nachbarinnot.ORF.at.

Dabei geht es um die EU-Richtlinie zur Gewährung vorübergehenden Schutzes, die nach dem Krieg auf dem Balkan in den 1990er Jahren ausgearbeitet, aber bisher nicht angewandt wurde. Sie sieht für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren in allen EU-Staaten das gleiche Schutzniveau vor, einschließlich Aufenthaltsgenehmigung, Zugang zu Beschäftigung, Sozialhilfe und medizinischer Versorgung.

Behelfslager in polnischer Grenzstadt

Hunderttausende Menschen sind seit Beginn der russischen Invasion aus der Ukraine ins benachbarte Polen geflüchtet. In der Grenzstadt Przemysl wurde ein behelfsmäßiges Lager errichtet, in dem die Menschen nach ihrer Ankunft erstversorgt werden.

Österreich will humanitären Korridor

Österreich fordert von Russland dringend humanitäre Korridore für Hilfslieferungen und Flüchtlinge in der Ukraine. Das sagten Kanzler Karl Nehammer und Außenminister Alexander Schallenberg (beide ÖVP) am Dienstagnachmittag in einer eilig einberufenen Pressekonferenz in Wien. „Es gibt keine sicheren Korridore. Das betrifft auch Österreicherinnen und Österreicher“, die die Ukraine verlassen wollen. Der Bundeskanzler hatte den ukrainischen Botschafter Wassyl Chymynez getroffen und mit seinem ukrainischen Amtskollegen Denys Schmyhal und dem Bürgermeister von Kiew, Witali Klitschko, telefoniert.

Klitschko haben ihm berichtet, dass die Lebensmittelversorgung und die Medikamente „noch ein paar Tage“ reichen. Humanitäre Hilfe sei jetzt notwendiger denn je. Sonst drohe eine humanitäre Katastrophe, warnte Nehammer. „Wir werden den russischen Präsidenten voll verantwortlich machen, wenn österreichische Staatsbürger zu Schaden kommen“. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien aufzuklären. Nehammer appellierte an Russland „als kriegsführende Partei, nicht den letzten Funken an Menschlichkeit zu vergessen“.

Österreicher in Ukraine: Nicht alle wollen weg

Schallenberg hatte zuvor den russischen Botschafter in Wien, Dmitri Ljubinski, ins Außenministerium zitiert. Das sei eines der schärfsten diplomatischen Mittel, die Österreich als neutrales Land zur Verfügung stünden, so Nehammer. Schallenberg betonte nach eigenen Angaben gegenüber dem Botschafter die Notwendigkeit der Einhaltung des Völkerrechts und forderte von Russland die Sicherstellung humanitärer Korridore für Zivilisten sowie die Sicherstellung des Zugangs für humanitäre Organisationen. Ljubinski habe zugesagt, diese Botschaft an Moskau weiterzugeben.

330 Österreicher haben die Ukraine bereits verlassen, berichtete Schallenberg. Rund 120 seien noch dort, 42 im Großraum der von russischen Soldaten umzingelten Hauptstadt Kiew. Aber nicht alle wollen weg. „Die Botschaft ist nicht geschlossen“, betonte Schallenberg, sie sei nur „operativ“ in die Westukraine verlegt worden. Wenn jemand einen Zufluchtsort in Kiew brauche, „steht die Botschaft selbstverständlich zur Verfügung“.