Ein Arzt in einem Krankenhaus in Mariupol, Ukraine.
AP/Evgeniy Maloletka
Ukraine-Krieg

Humanitäre Lage teils „katastrophal“

Kaum Nahrung, fehlendes Wasser, kein Strom und zerstörte Gesundheitseinrichtungen – die humanitäre Lage in Teilen der Ukraine verschlechtert sich angesichts der russischen Angriffe im Land laufend. Auch Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen (MSF), das UNO-Welternährungsprogramm (WFP) sowie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlagen Alarm.

„Katastrophal“ ist die Lage nach Angaben der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen etwa in der seit Tagen unter russischem Beschuss stehenden südukrainischen Hafenstadt Mariupol. Der MSF-Notfallkoordinator in der Ukraine, Laurent Ligozat, sagte der Nachrichtenagentur AFP am Samstag, die Lage in der Stadt mit beinahe einer halben Millionen Einwohnerinnen und Einwohner verschlimmere sich „von Tag zu Tag“. Am Sonntag sollte angesichts der prekären Lage auch die zuvor verschobene Evakuierung fortgesetzt werden. Das Vorhaben scheiterte wegen Verstößen gegen die Feuerpause aber erneut.

Die Menschen in Mariupol hätten „sehr große Probleme, Zugang zu Trinkwasser zu bekommen“, sagte Ligozat. Auch Strom und Heizungen funktionierten in Mariupol nicht mehr. „Die Lebensmittel gehen aus, die Läden sind leer.“ Ähnlich die Schilderung des MSF-Notfallkoordinators Alex Wade: „Die Stadt befindet sich Tag und Nacht seit Tagen unter Beschuss. Supermärkte wurden getroffen. Es gibt keine Elektrizität, keine Heizung, kein Wasser.“

Bürgermeister von Mariupol: „Humanitäre Blockade“

Der Bürgermeister von Mariupol, Wadym Boitschenko, sah die Stadt einer „humanitären Blockade“ ausgesetzt. Das sagte er nach dem ersten gescheiterten Evakuierungsvorhaben am Samstag in einer TV-Sendung. Russische Einheiten hätten alle 15 Stromleitungen in die Stadt ausgeschaltet. Diese sei seit fünf Tagen ohne Strom. Da die Heizkraftwerke für ihren Betrieb Strom benötigten, sitze man in der Kälte. Auch der Mobilfunk funktioniere nicht.

Gesundheitspersonal betreut eine verwundete Person in einem Krankenhaus in Mariupol, Ukraine.
AP/Evgeniy Maloletka
Die Zahl der Opfer im seit Tagen unter Beschuss stehenden Mariupol wächst rasant

Noch vor Beginn des Krieges sei die Hauptwasserleitung abgetrennt worden, und nach fünf Kriegstagen habe man auch die Reservewasserversorgung verloren. Die russische Seite sei sehr methodisch vorgegangen, um die Stadt von jeglicher Versorgung abzuschneiden und so inneren Druck zu erzeugen. Durch den zunehmenden Beschuss und Bombardierungen sei auch die Zahl der Verletzten zuletzt in die „Tausende“ gestiegen, sagte Boitschenko weiter. In Bezug auf die Stadt sprach er von „Ruinen“ und „kolossaler“ Zerstörung.

Die angekündigte Evakuierung Mariupols galt als Vorbote der Einnahme der Hafenstadt. Das würde einen Zusammenschluss der russischen Truppen mit Einheiten aus der Krim und dem östlichen Donbass ermöglichen.

Zerstörtes gebäude in Sumy, Ukraine.
Reuters
Zerstörte Gebäude in der Stadt Ochtyrka im Nordosten der Ukraine

Abgeordnete: Über 700.000 ohne Strom

Die ukrainische Abgeordnete Inna Sowsun kritisierte auf Twitter am Sonntag zudem, dass über 700.000 Menschen in der Ostukraine keinen Strom hätten, weil russische Truppen eine Gaspipeline zwischen Donezk und Mariupol beschädigt hätten. Fast eine Million Menschen würden sich mit einer humanitären Katastrophe konfrontiert sehen und drohten nun zu erfrieren, so die Abgeordnete.

Auch Oblast Sumy vor humanitärer Katastrophe

Prekär erscheint die Situation auch in anderen Teilen des Landes – so etwa im Oblast Sumy im Nordosten des Landes. Mariupol wie auch die Region Sumy würden sich laut Angaben eines ukrainischen Regierungsvertreters gegenüber dem TV-Sender Ukraine-24 „am Rande einer humanitären Katastrophe“ befinden.

So würde auch in den Städten Ochtyrka (rund 48.000 Einwohner) und Trostjanez (rund 20.000 Einwohner) derzeit Strom und Wasser fehlen, sagte der Regierungsvertreter Wadim Denisenko laut BBC. Zudem würden russische Truppen auch Wohngebiete in Ochtyrka bombardieren – Dutzende Wohnhäuser sollen ukrainischen Einsatzkräften zufolge bei russischen Angriffen zerstört worden sein. Russland besteht trotz zahlreicher derartiger Berichte darauf, nur ukrainisches Militär, nicht aber Zivilisten anzugreifen.

WHO bestätigt mehrere Angriffe auf Gesundheitszentren

Seit Tagen häuften sich auch immer wieder Meldungen, wonach Spitäler von russischen Truppen angegriffen und zerstört würden. Die WHO bestätigte am Sonntag, dass es mehrere Angriffe auf Gesundheitszentren in der Ukraine gab. Es seien dabei mehrere Menschen getötet und verletzt worden, schrieb WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus auf Twitter. Weitere Vorfälle würden untersucht. „Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen oder Beschäftigte verletzen die medizinische Neutralität und verstoßen gegen das internationale Menschenrecht.“

Nahrung und Trinkwasser fehlen vielerorts

Generell wächst auch die Sorge, dass Nahrungsmittel und Trinkwasser an weiteren Orten knapp werden. „Die Lage für die Menschen in der Ukraine hat sich durch die erbitterten Kämpfe dramatisch zugespitzt“, sagte Martin Frick, Direktor des UNO-Welternährungsprogramms in Deutschland am Wochenende. Die Menschen harren in Kellern aus und könnten nur unter größter Gefahr Besorgungen machen.

Eine Gruppe Frauen bei der Zubereitung von Essen für Soldaten in Kiev, Ukraine.
Reuters/Mykola Tymchenko
Die Sorge vor einer Versorgungsknappheit im Land wächst

„Gerade aus Kiew und Charkiw erreichen uns Berichte, dass Nahrungsmittel ausgehen und Trinkwasser knapp wird“, sagte Frick. Das WFP baue seine Präsenz in der ganzen Region aus, „aber es ist ein Wettlauf gegen die Zeit“. Die Millionenmetropole Charkiw ist nach der Hauptstadt Kiew die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Beide Städte sollen von russischen Truppen umzingelt sein.

Russische Truppen legten bisher generell auch einen großen Fokus auf Einrichtungen der Energieinfrastruktur, darunter das größte Kernkraftwerk Europas in Saporischschja. Nach Ansicht der ukrainischen Armee plant Russland nun auch, den Damm des Wasserkraftwerks Kaniw einzunehmen. Der Damm liegt rund 150 Kilometer südlich von Kiew am Fluss Dnjepr.

Flüchtlinge aus der Ukraine in einer Unterkunft in Krakau, Polen.
APA/AFP/Louisa Gouliamaki
Flüchtlinge aus der Ukraine im Bahnhof der polnischen Stadt Krakow

UNHCR erwartet bis zu vier Mio. Flüchtlinge

Angesichts der sich täglich verschlechternden Situation im Land versuchen deshalb auch zahlreiche Menschen ins Ausland zu fliehen. Dem UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) zufolge wurde am Sonntag die Zahl von 1,5 Millionen Flüchtlingen erreicht. Bis zum Juli könnten es nach Schätzungen des UNHCR bis zu vier Millionen sein. Die meisten Menschen kommen ins Nachbarland Polen, viele fliehen auch nach Rumänien und in die Slowakei.