Zerstörte russische Panzer
Reuters/Irina Rybakova/Press Service Of The Ukrainian Ground Forces
Zeichen mehren sich

Zweifel an militärischer Stärke Russlands

Dass der russische Einmarsch in die Ukraine nicht so läuft, wie sich das der Kreml vorgestellt hat, war schon nach den ersten Tagen klar. Die zunächst nur leichten Zweifel an der Stärke der russischen Armee mehren sich – auch bei renommierten Militärexperten. Nicht nur, dass sich die Ukraine als wehrhafter erweist als gedacht: Vor allem bei der Logistik hat Russland große Probleme. Für die Ukraine sind das aber nicht nur positive Nachrichten.

Dass im russischen Angriffskrieg vieles nicht nach dem Plan von Russlands Präsident Wladimir Putin läuft, lässt sich nicht nur in militärischen Einschätzungen ablesen. Dass Russland nie da gewesene Zensurmaßnahmen mit Haftstrafen für Journalistinnen und Journalisten verhängt, die letzten kritischen Medien schließt und internationale soziale Netzwerke unzugänglich macht, sind Indizien dafür. Wenn man objektiv über russische Erfolge berichten könnte, wäre das nicht notwendig.

Auch dass ein wenig Fahrt in die Diplomatie gekommen ist – etwa mit einem geplanten Treffen des russischen Außenministers Sergej Lawrow mit seinem ukrainischen Gegenüber Dmytro Kuleba –, wäre noch vor ein paar Tagen unwahrscheinlich gewesen.

Welche Bedeutung den russischen Schwächen zugemessen wird, ist aber eine andere Frage. Gerade im Westen und freilich in der Ukraine selbst mag der Wunsch Vater des Gedankens sein, wenn die Analysen für die russische Armee besonders verheerend ausfallen. Dass sie rein in Zahlen jener der Ukraine weiterhin haushoch überlegen ist, bleibt unbestritten.

Hunderte Panzerfahrzeuge zerstört

Klar ist dennoch, dass die russischen Verluste enorm sind: Das Blog Oryx, hinter dem ein niederländischer Militäranalyst steht, versucht auf Basis von Fotos und Videos, die auf Social Media geteilt werden, den Verlust an Kriegsmaterial zu beziffern. Laut Oryx verlor Russland bisher (Stand Mittwochfrüh) 151 Kampfpanzer, fast ebenso viele Schützenpanzer und beinahe 150 weitere gepanzerte Fahrzeuge wie Truppentransporter.

Neben diversen Waffensystemen verlor Russland laut den Angaben auch je elf Militärflugzeuge und Hubschrauber – und 300 sonstige Fahrzeuge wie Last- und Geländewagen. Oryx zählt nur durch Bilder und Recherchen bereits belegte Verluste und räumt ein, dass diese weit höher sein könnten. Das ukrainische Militär nennt viel höhere Zahlen inklusive rund 12.000 gefallener russischer Soldaten. Belege für diese Zahlen gibt es aber nicht.

Ukrainische Soldaten neben einem zerstörten russischen Panzer
Reuters/Irina Rybakova/Press Service Of The Ukrainian Ground Forces
Zerstörtes russisches Militärgerät

„Potemkinsches Militär“

Manche Experten zeigen sich auch verwundert über den zum Teil schlechten militärischen Ausrüstungsstand der Russen. Von bei Paraden präsentierten Hightech-Waffen sei noch recht wenig zu sehen gewesen. Andrej Kosyrew, russischer Außenminister unter Boris Jelzin von 1990 bis 1996, spricht auf Twitter von einem „potemkinschen Militär“ der Russen. Denn ein Gutteil der Gelder für die militärische Ausrüstung der vergangenen 20 Jahre sei veruntreut worden und in „Megajachten auf Zypern“ geflossen, wie er es bildlich ausdrückt. Nur das habe sich niemand an den Kreml zu melden getraut.

Insofern habe Putin eine völlig falsche Einschätzung der Schlagkraft seines Heeres gehabt. Zudem habe er die Ukraine grob falsch eingeschätzt und sei auch der falschen Annahme aufgesessen, der Westen sei schwach und zerstritten. Alle drei Annahmen seien für die jetzige Situation verantwortlich. Allerdings galt Kosyrew schon in seinen Zeiten als Minister als proamerikanisch, mittlerweile lebt er in den USA. Inwieweit er noch Einblicke in die aktuelle Situation in Russland hat und objektiv analysiert, ist unklar. Dennoch: Ex-Oligarch und Kreml-Gegner Michail Chodorkowski kam in einem ZIB2-Interview zu ähnlichen Einschätzungen.

Kreml-Kritiker zu Putins Position

Der Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski analysiert im Interview unter anderem die derzeitige Position der russischen Oligarchen im Krieg gegen die Ukraine und erklärt, warum Putins Stellung in der russischen Bevölkerung langsam wanken könnte.

Wirbel um angebliches russisches Geheimdienstdokument

Für noch mehr Wirbel hatte am Wochenende eine für Russland vernichtende militär– und politstrategische Einschätzung gesorgt, die zuerst in sozialen Netzwerken die Runde machte. Das Brisante daran: Sie soll aus dem russischen Geheimdienst FSB stammen. Das ist zwar keineswegs bewiesen, aber Experten wie Christo Grozev von der Investigativplattform Bellingcat vermuten, dass das Dokument – im Gegensatz zu vielen anderen, die in sozialen Netzwerken kursieren – authentisch ist.

Auf der russischen Seite herrsche völliges Chaos, weil man auf die Lage nicht im Geringsten vorbereitet gewesen sei. Die Logistik funktioniere nicht, und Russland habe sogar zu wichtigen Divisionen den Kontakt verloren. Auch wie hoch die Verluste sind, wisse niemand.

Probleme auch in Syrien und Tschetschenien?

Eine Verstärkung der Truppen sei logistisch jetzt schon schwierig und würde angesichts der Größe der Ukraine und des Widerstandes dort nichts bringen. Eine Generalmobilmachung in Russland würde das Land politisch, ökonomisch und sozial explodieren lassen. Dazu kämen Probleme auch anderswo, etwa in Syrien, wo man noch immer militärisch aktiv ist.

Und Ramsan Kadyrow, der autokratische Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien, ist laut dem Dokument schwer verärgert, nachdem eine seiner Spezialeinheiten bereits an den ersten Kriegstagen nahe Kiew von ukrainischen Streitkräften geschlagen wurde. Gerüchte gingen um, die Ukraine habe aus russischen Quellen, vielleicht sogar aus dem FSB, von der Aktion erfahren und sei deshalb erfolgreich gewesen.

Marionette für Regierung gesucht

Natürlich kann das Dokument eine Fälschung und Teil des Informationskrieges sein. Interessant dabei ist aber, dass es auch politstrategische Fragen aufwirft, die sich tatsächlich stellen: So ist offen, wen Putin als Statthalter in der Ukraine einsetzen will, sollte die Regierung tatsächlich kapitulieren oder abgesetzt werden. Viktor Medwedtschuk, der wohl wichtigste prorussische Politiker der vergangenen Jahre, ist laut dem Paper untergetaucht.

Andere Kandidaten kämen nicht infrage oder hätten abgewunken. Erwähnt wird dann noch der 2014 abgesetzte Präsident Viktor Janukowitsch, dem Russland nach dem Sturz Asyl gewährte. Zuletzt hieß es bereits, er sei in Minsk, um wieder in Stellung gebracht zu werden. In einer demokratischen Ukraine würden 13 Jahre Haft wegen Landesverrats und mehrere weitere offene Prozesse auf ihn warten.

Der ukrainische Ex-Präsident Viktor Janukowitsch
AP/Pavel Golovkin
Ex-Präsident Janukowitsch floh 2014 aus der Ukraine, jetzt rief er Wolodymyr Selenski zur Kapitulation auf

In dem Paper heißt es aber auch, eine ukrainische Regierung von Russlands Gnaden würde wohl „zehn Minuten, nachdem wir weg sind“, gestürzt. Und für eine dauerhafte Besetzung brauchte es 500.000 Mann – Nachschub und Logistik noch nicht mitgerechnet.

Logistik als Achillesferse

Und genau die Logistik ist es, die jetzt bereits die Achillesferse der russischen Truppen zu sein scheint. Für viele Experten ist das auch nicht überraschend, weil das ein traditionelles Problem der russischen Armee sei, das sich schon im Krieg in Afghanistan gezeigt hat. Russland setze auf schwere Artillerie, heißt es etwa in einem Artikel im Fachmagazin „War on the Rocks“ aus dem Vorjahr.

Allein für diese Artillerie und die notwendige Munition brauche es viele Transporter. Und diese seien in der russischen Armee knapp. Umso weniger Fahrzeuge würden dann oft für den Transport von Ersatzteilen, Wasser, Nahrung und vor allem Treibstoff vorhanden sein. Weil sie den Nachschub von Stützpunkten aufrechterhalten muss, komme die Armee auch recht langsam voran.

Russische Armee braucht Schienen

Darauf verweist auch Phillips Payson O’Brien, Professor für Militärstrategie an der schottischen Universität St. Andrews, auf Twitter. Die ukrainische Armee habe es bisher geschafft, diese logistischen Probleme zu nutzen und sich bei Angriffen auf Tanklaster zu konzentrieren. Das stellte auch der britische Militärgeheimdienst in einer Lageanalyse zuletzt fest.

O’Brien verweist auch auf eine Bloomberg-Analyse, die die Bedeutung der Eisenbahn in der russischen Armee hervorstreicht – und diese könnte auch in der Ukraine schlagend werden, wo bereits Züge für Nachschub und Truppenbewegungen genutzt werden. O’Brien führt aber hier Amateurvideos ins Treffen, die zeigen, dass auf diesen Zügen auch sehr viele konventionelle und nicht militärische Fahrzeuge zu sehen sind. Wenn die russische Armee jetzt schon auf diese zurückgreifen müsse, würde das die logistischen Probleme noch verschärfen, weil diese Fahrzeuge auf gute Straßen angewiesen seien, schreibt er. Mit den Straßen hätten aber selbst Militärfahrzeuge offenbar schon jetzt Probleme.

Russisches Militärfahrzeug auf einem Zugwaggon
APA/AFP
Russisches Militärfahrzeug auf einem Zugwaggon

Probleme auch bei kilometerlangem Konvoi?

Auch bei dem Dutzende Kilometer langen Militärkonvoi, der seit einer Woche nordwestlich von Kiew stillsteht, vermutet O’Brien schwere logistische Probleme – obwohl dieser aus russischer Sicht eher die Lösung dafür sein sollte.

Möglicherweise sei die unerwartet geringe Rolle, die die russische Luftwaffe im Krieg bisher spielt, auch logistischen Problemen geschuldet, mutmaßt O’Brien und vermutet Nachschubprobleme bei präzisionsgelenkter Munition. Damit müssten russische Kampfflugzeuge „altmodische Bomben“ abwerfen – für mehr Genauigkeit bei geringerer Flughöhe, was sie wiederum leichter zur Beute der – überraschenderweise noch teilweise aktiven – Luftabwehr der ukrainischen Armee mache.

Satellitenaufnahme eines russischen Militärkonvois in der Ukraine
Reuters/Maxar Technologies
Der Konvoi nordwestlich von Kiew steht seit Tagen still

Waffenlieferungen kommen in Ukraine an

Viel weniger organisatorische Probleme gibt es offenbar, die Ukraine mit Waffen zu versorgen. Alleine aus den USA kamen laut „New York Times“ binnen weniger Tage 17.000 Panzerabwehrwaffen in der Ukraine an. Auch andere Länder machten ihre versprochenen Waffenlieferungen innerhalb kürzester Zeit wahr und schafften es, das Kriegsgerät auf unbemerktem Weg ins Land zu bringen.

Auch mit diesen und andern Waffen wird sich die Ukraine gegen die russische Übermacht stemmen. Sie konnte die gewonnene Zeit durch die russischen Probleme aber nicht nur zur Aufstockung des Waffenarsenals nutzen, sondern insbesondere auch weitere Vorkehrungen für die erwartete Offensive auf Kiew treffen.

Schwache Moral?

„Der Einsatz der Streitkräfte ist völlig irrational“, sagte Michael Kofman, Leiter der Russland-Studien bei CNA, einem Forschungsinstitut für Verteidigungsfragen, der „New York Times“. „Die Vorbereitungen auf einen echten Krieg sind nahezu inexistent, und die Moral ist unglaublich schwach, weil den Truppen offensichtlich nicht gesagt wurde, dass sie in diesen Kampf geschickt werden.“

Über die Moral der russischen Truppen wurde bereits viel gemutmaßt, valide Aussagen lassen sich darüber kaum treffen. Fest steht, dass jene der ukrainischen Armee – mit einem klaren Ziel, mit dem sich jeder Kämpfer identifiziert – weit höher ist.

Generalmajor Hofbauer zur militärischen Lage

Generalmajor Günther Hofbauer vom Verteidigungsministerium analysiert die aktuelle militärische Lage in der Ukraine.

Putin sagte zuletzt, dass in der Ukraine nur Berufssoldaten kämpfen würden. Möglicherweise reagierte er damit auch auf in Netzwerken kursierende Bilder von gefangenen genommenen extrem jungen russischen Soldaten. Der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowitsch forderte das Militär zwar auf, die Veröffentlichung solcher Bilder und Videos einzustellen – doch gleichzeitig kennt man wohl auch die Wirkung solcher Aufnahmen in einem Krieg.

Schmutziger Krieg – und eine Frage der Zeit

Doch nun wird ein Kampf auch gegen die Zeit erwartet, wie etwa auch in einer BBC-Analyse zur möglichen Weiterentwicklung des Krieges festgehalten wird: Russland reagiert auf den heftigen Widerstand, das sah man zuletzt schon, mit immer weniger Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Nimmt man die Beispiele der russischen Angriffe auf Grosny in Tschetschenien und Aleppo in Syrien, dann ist das Schlimmste zu erwarten, wenn Russland mit enormem Blutvergießen versucht, die ukrainische Regierung in die Knie zu zwingen. Zudem hätten, so viele Experten unisono, die vergangenen Jahrzehnte gezeigt, dass Menschenleben, auch in den eigenen Reihen, bei militärischen Entscheidungen Moskaus eine untergeordnete Rolle spielen.

Umgekehrt muss die Regierung in der Ukraine darauf hoffen, dass die schweren militärischen Verluste, sich vielleicht weiter zuspitzende Logistikprobleme und die Sanktionen gegen Moskau auch in Russland Wirkung zeigen, sei es bei der Bevölkerung, sei es innerhalb des russischen Machtzirkels – in der Hoffnung, dass der Druck auf den Kreml erhöht wird. Aus humanitärer Sicht sind die Perspektiven düster: Bis es – im besten Fall – zu Verhandlungen kommt, werden wohl ein hoher Blutzoll und unendliches Leid in der Ukraine zu beklagen sein.