Moshammer geht für ihre differenzierte Betrachtung des komplexen Themas „weiblicher Alkoholismus“ von der eigenen Familiengeschichte aus. Sie fand einen Brief ans Christkind, den sie als Siebenjährige geschrieben hatte, in dem sie darum bittet, ihre Mutter möge mit dem Trinken aufhören. Dass der Brief gefilmt wird, möchte sie nicht, in der Ausstellung in der Galerie König im vierten Bezirk wird er jedoch gezeigt. Beim Betrachten stockt der Atem.
Selten verweist die Manifestation eines intimen Moments so sehr auf das ganz große Drama einer Familienkonstellation und einer gesellschaftlichen Problematik. In der Ausstellung wird, davon ausgehend, eine assoziative, chronologische Mindmap in mehreren Kapiteln gezeigt. Auf Polster hat Moshammer alte Fotos ihrer Mutter gedruckt, die sie beim Trinken zeigen – und medizinische Bilder wie Röntgenaufnahmen. Betrachtend möchte man mit den Polstern kuscheln. Doch die Trunkenheit zieht eine Grenze. Und auf der Sucht, so Moshammer, könne man sich ausruhen wie auf einem Polster.
16 Blicke, 16 Emotionen
Daneben blickt man auf 16 Screens in ebensoviele bildschirmfüllende Augen; acht Mal die Mutter, acht Mal die Tochter. Es ist eine irritierende Erfahrung beim Betrachten, ein Zwinkern, Starren, Blicken, dem man sich nicht entziehen kann, das sich zu einem weißen Rauschen an Emotionen egalisiert. Emotionen sind hier wie dort zu sehen, bei der Mutter und bei der Tochter, irgendwie gleich, irgendwie anders. Für Moshammer ist es eine Annäherung, eine Suche nach Verständnis für die Mutter.
„Sei nicht so hysterisch!“
Etwas ganz anderes hat die ecuadorianische Fotografin Paola Paredes aufgeregt – und inspiriert. In einer Bibliothek hatte sie Fotos aus dem 19. Jahrhundert entdeckt, die Patientinnen des Neurologen Jean-Martin Charcot zeigen. Er untersuchte das Phänomen der weiblichen „Hysterie“, das sich im Rückblick als misogynes Konstrukt erwies. Eine Allerweltsdiagnose für alle möglichen Krankheiten, die weibliches Empfinden als „hysterisch“ abtat, ein Wort, dessen heutiger Gebrauch Paredes, die eigentlich eine große Ruhe ausstrahlt, zur Weißglut treibt. Beispiel: „Sei’ nicht so hysterisch!“
Der Begriff Hysterie ist vom altgriechischen Wort für Uterus abgeleitet. Charcot, heißt es im Text zur Ausstellung, verwandelte mit seinen Fotos „intime Momente der Verletzlichkeit in groteske Beweisstücke von voyeuristischer Theatralik“ und würden Frauen als Objekte einer „sexualisierten Geisteskrankheit“ fetischisieren. Paredes decouvriert dieses Denken und visualisiert es in Form von Animated Gifs, die in die alten Fotos eingeschrieben sind. Auf mehreren Screens wird die Verrücktheit dieser Art des männlichen Blicks, der Frauen Gewalt antut, dargestellt. Zu sehen sind die Screens in der Festivalzentrale im Augarten.
Wenn Bäume Grenzen setzen
Versöhnlich ist hingegen „Hotel Bellevue“, das Projekt des 1990 geborenen belgischen Fotografen, Geschichtenerzählers und Universitätsprofessors Dries Segers im Kunsthaus. Vor dem Interview entschuldigt er sich dafür, dass er nicht viel spricht – nur, um dann zu jedem Foto eines Baums in seiner Ausstellung einen ganzen Sack voll Geschichten parat zu haben. Sein Fokus: Grenzbäume, die zwischen zwei Ländern gepflanzt wurden.
So zeigt ein Bild zwei Bäume, einen auf der belgischen, einen auf der französischen Seite der Grenze. Die Spitzen berühren einander fast, es wirkt wie ein Portal. Segers weist daraufhin, dass man an den Bäumen auch die Unterschiede der Länder ablesen kann: Der belgische Baum ist brav gestutzt mit vielen glatten Flächen, der französische Baum wuchert chaotisch Richtung Himmel.
Werwölfe, BHs und ein Hoody
Für Dregers sind Bäume mehr als nur Pflanzen, es sind Mittler zwischen Präsenz und Transzendenz. Er ist dabei kein Esoteriker, sondern Beobachter. So gibt es etwa Nagelbäume in Belgien, die Heilung versprechen. Bei einem Leiden nimmt man ein Kleidungsstück, das normalerweise die betroffene Stelle bedeckt, und nagelt es einen Baum. An solchen Bäumen hängen Hunderte BHs, T-Shirts und mehr.
Ausstellungshinweis
Die Foto Wien findet noch bis 27. März statt. Die Festivalzentrale befindet sich im Atelier Augarten. Es gibt zahlreiche weitere Locations zu entdecken, die auf die Stadt verteilt sind.
Dass ein Brauch, der ans Mittelalter erinnert, heute noch so aktiv gelebt wird, erklärt sich Dregers mit dem Rückzug der Religionen. Besonders im Gedächtnis geblieben ist ihm ein junges Mädchen, das mit Fila-Hoody auf dem Bänkchen vor dem Baum saß, als er auftauchte. In der Hand hatte sie noch den Hammer. In seinem Baumuniversum findet sich auch ein Flüsterbaum, dem Kinder Sorgen und Geheimnisse anvertrauen. Und einen Baum, dessen Magie die Kirche für sich reklamiert hat. Dort hängt ein kleiner Marienschrein, der einst einem Mann, der auf der Flucht vor einem Werwolf auf den Baum geklettert war, das Leben gerettet hatte. Sagt zumindest die Legende.
Dregers ist Teil des Naturschwerpunkts der Foto Wien, Moshammer und Paredes des Fokus auf Fotografinnen. Ihre Geschichten sind spannend aber nur drei von 500, die es zu entdecken gilt. Nicht nur die Kunst, auch die Locations, die in der ganzen Innenstadt verstreut liegen, sind einen ausgedehnten Spaziergang wert – eine Entdeckungsreise, die man nicht bereuen wird.