Feuerwehrleute befreien einer Frau aus einem zerbombten Gebäude
AP/Evgeniy Maloletka
Mariupol

Helfer berichten von dramatischen Szenen

In der seit Tagen belagerten ukrainischen Hafenstadt Mariupol spielen sich angesichts der katastrophalen Versorgungslage mittlerweile dramatische Szenen ab. „Die Leute haben angefangen, um Lebensmittel zu kämpfen“, sagte ein Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in einer am Donnerstag veröffentlichten Videobotschaft. „Alle Geschäfte und Apotheken wurden vor vier oder fünf Tagen geplündert.“

„Viele haben überhaupt kein Wasser zum Trinken“, sagte der IKRK-Mitarbeiter Sascha Wolkow in dem in Mariupol aufgenommenen Video weiter. „Viele Leute sagen, dass sie keine Nahrung für die Kinder haben.“ Er habe auch gesehen, wie Autos zerstört worden seien, um den Kraftstoff aus dem Tank zu holen. Wolkow harrt nach eigenen Angaben mit 65 weiteren Menschen in einem Gebäude aus. Viele seien mittlerweile wegen der Kälte krank geworden.

Am Donnerstag gab es nach Angaben des Stadtrats neue Luftangriffe auf die Stadt. In der Nähe eines Wohnhauses seien Bomben abgeworfen worden, teilte der Stadtrat zu Mittag im Nachrichtenkanal Telegram mit. Die Technische Universität in der Nähe des Stadtzentrums sei getroffen worden. Angaben zu Opfern liegen noch nicht vor. Auf einem Video waren Einschläge zu sehen. Ein Platz war übersät mit Trümmern.

„Helft Mariupol!“

Mariupol ist bereits seit Tagen vollständig von russischen Truppen umzingelt und von der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten, Strom und Gas abgeschnitten. Mehrere Evakuierungsversuche schlugen fehl. Die russische und die ukrainische Seite machten sich gegenseitig dafür verantwortlich. Die Stadt ist von großer strategischer und symbolischer Bedeutung: Es ist die letzte große Hafenstadt am Asowschen Meer unter ukrainischer Kontrolle.

Ein zerstörtes Kinderkrankenhaus in Mariupol
AFP/National Police of Ukraine
Bilder des bombardierten Krankenhauses in Mariupol sorgten weltweit für Entsetzen

Die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk wandte sich in einem dramatischen Appell an die internationale Gemeinschaft, um Mariupol zu unterstützen. „Helft Mariupol! Dort ist eine reale humanitäre Katastrophe“, teilte sie per Videobotschaft mit. Es sei zum wiederholten Male kein Hilfstransport in die Hafenstadt gekommen. „Weder Wasser noch Medikamente oder Lebensmittel gelangten zu den Menschen, die sich unter totalem Beschuss mehrere Tage hintereinander befinden“, betonte die Ministerin.

Entsetzen nach Bombenangriff auf Geburtsklinik

Weltweites Entsetzen hatte ein russischer Bombenangriff auf eine Kinder- und Geburtsklinik in der Stadt am Mittwoch ausgelöst. Dabei wurden laut ukrainischen Angaben zwei Erwachsene und ein Kind getötet, mindestens 17 Angestellte wurden verletzt. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres verurteilte die Attacke: „Der heutige Angriff auf ein Krankenhaus in Mariupol, wo sich Entbindungs- und Kinderstationen befinden, ist entsetzlich.“

Bei dieser Darstellung blieben am Donnerstag auch die Vereinten Nationen. „Das dortige Menschenrechtsteam hat bestätigt und dokumentiert, was sie als wahllosen Luftangriff auf das Krankenhaus bezeichneten und dass das Krankenhaus zu dieser Zeit Frauen und Kinder versorgte“, sagte UNO-Sprecher Stephane Dujarric am Donnerstag in New York. Man bleibe bei der Darstellung des Generalsekretärs.

Satellitenbilder aus Mariupol nach dem Angriff gaben einen Eindruck vom Ausmaß der Zerstörung in der Hafenstadt. Zu sehen sind darauf unter anderem zerstörte Wohnhäuser und Geschäfte.

Satellitenbild zeigt Wohngegend in Mariupol im Februar 2022
Satellitenbild zeigt Wohngegend in Mariupol am 9. März 2022
AP/2022 Maxar Technologies AP/2022 Maxar Technologies

Moskau dementiert den Angriff: Russland habe bereits am 7. März die Vereinten Nationen informiert, dass in der ehemaligen Klinik kein medizinisches Personal mehr sei, sondern ein Lager ultraradikaler Kämpfer des ukrainischen Bataillons Asow, sagte dagegen Russlands Außenminister Sergej Lawrow am Donnerstag in Antalya nach Gesprächen mit seinem ukrainischen Kollegen Dmytro Kuleba. Er sprach von einer „Manipulation“ der gesamten Welt mit Informationen zu mutmaßlichen Gräueltaten der russischen Armee.

Selenski: „Russen wurden belogen“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski wies Lawrows Vorwürfe zurück: „Die Russen wurden (im Fernsehen) damit belogen, dass angeblich in dem Krankenhaus keine Patienten und in dem Geburtshaus keine Frauen und Kinder waren“, sagte der Staatschef in einer Videobotschaft. Das sei alles eine „Lüge“.

Unterdessen kursieren in sozialen Netzwerken vor allem zwei Bilder: Das eine zeigt eine hochschwangere Frau auf einer Treppe voller Schutt, sie trägt einen gepunkteten Jogginganzug, im Brustbereich ist ein Teddybär aufgenäht, in ihrem Gesicht klebt Blut. Das zweite Bild zeigt eine offenbar ebenfalls schwangere Frau, die auf einer Liege durch Trümmer getragen wird.

Beide Aufnahmen stammen laut ukrainischer Darstellung von dem Gelände des betroffenen Entbindungsheims. Eine Druckwelle soll Scheiben, Möbel und Türen zerstört haben. Präsident Selenski veröffentlichte am Mittwochabend selbst ein Video, das völlig verwüstete Räume der Klinik zeigen soll. „Menschen, Kinder sind unter den Trümmern“, schrieb Selenski dazu. Die unterschiedlichen Angaben beider Seiten ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.

Drei Entbindungskliniken zerstört

Darüber hinaus sind laut Angaben der UNO im Zuge des Angriffskriegs bereits drei Entbindungskliniken zerstört worden. Das Krankenhaus in Mariupol sei „nicht das einzige“, das angegriffen worden sei, sagte Jaime Nadal von der UNO-Agentur für reproduktive Gesundheit am Donnerstag. Die Entbindungskrankenhäuser in Schytomyr und Saltiwsky seien ebenfalls zerstört worden. Nadal machte keine Angaben dazu, wer für die Angriffe auf die anderen beiden Einrichtungen verantwortlich wa, oder ob dabei ebenfalls Menschen zu Schaden kamen.

Selenski zufolge wurden binnen zwei Tagen etwa 100.000 Menschen aus umkämpften Städten in Sicherheit gebracht. Gleichzeitig beschuldigte Selenski in der Nacht auf Freitag Russland des Angriffs auf einen Korridor aus Mariupol. Bereits in den vergangenen Tagen waren lokale Waffenruhen für Evakuierungen aus Mariupol gescheitert.

Bürgermeister Klitschko: Kiew „eine Festung“

Unterdessen zeigt sich die Hauptstadt Kiew für einen russischen Großangriff gerüstet. „Kiew ist in eine Festung verwandelt worden“, sagte Bürgermeister Witali Klitschko im ukrainischen Fernsehen. „Das Hauptziel der Russen ist, Kiew zu erobern“, sagte Klitschko.

Auch die Regierung solle gestürzt werden. „Ich möchte sagen, dass diese Pläne nicht umgesetzt werden“, meinte er. „Jede Straße, jedes Gebäude, jeder Kontrollpunkt sind verstärkt worden“, sagte Klitschko im ukrainischen Fernsehen. Laut Klitschko flüchteten seit Kriegsbeginn bereits knapp zwei Millionen Bewohner aus der Hauptstadt. Im Großraum Kiew lebten vor dem Krieg rund 3,5 Millionen Menschen.