Albertina modern

Ai Weiweis Kunst der Widerständigkeit

Ai Weiwei hat dem kritischen China eine Stimme und ein Gesicht gegeben und gehört zu den großen Zeitgenossen der Gegenwartskunst. Für seine unbeugsame Haltung bezahlte er mit Hausarrest, Haft und Reiseverbot. „In Search of Humanity“ heißt eine Retrospektive in der Albertina modern. Sie spannt einen Bogen von den 1980er Jahren bis zur Gegenwart.

Das Gedränge ist groß, wenn Ai Österreich besucht. Fotografen rittern um das beste Bild. Er ist den Rummel gewohnt, posiert vor einer Installation, die aus Fahrrädern besteht. Der Künstler hat sie übereinander getürmt – eine Referenz an einen Wahlverwandten seiner Kunst, Marcel Duchamp. Hin und wieder zückt Ai sein Smartphone und knipst die Fotografen und Journalisten genauso unverhohlen wie sie ihn.

Später wird er manche Bilder womöglich auf Instagram posten. Die sozialen Netzwerke sind für Ai Leinwand und Sprachrohr. Mehr noch, Ai, der Entwurzelte, der seit 2015 im europäischen Exil lebt, bezeichnete Twitter und Instagram mitunter als Heimat und Zuhause. Als er 2009 zum ersten Mal verhaftet wurde, konnte Ai ein Selfie schießen, das um die Welt ging und jetzt in der Ausstellung „In Search of Humanity“ zu sehen ist. Die digitalen Distributionskanäle nutzt der Künstler schon lange als Plattform einer kritischen Gegenöffentlichkeit. Im medial gleichgeschalteten China wurde sein Blog zu einer wichtigen Plattform des oppositionellen China.

Fotostrecke mit 12 Bildern

Ai Weiwei
Illumination, 2019
LEGO-Bausteine
Courtesy of the artist
Courtesy of the artist and Lisson Gallery © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei, Illumination, 2019 LEGO-Bausteine, Courtesy of the artist
Ai Weiwei
FUCK, 2000
Leuchtschrift
Privatsammlung
ALBERTINA, Wien / Lisa Rastl und Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei, FUCK, 2000 Leuchtschrift Privatsammlung
Study of Perspective – Eiffel Tower, 1999
Farbfoto
ALBERTINA, Wien – The ESSL Collection
Mischa Nawrata © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei, Study of Perspective – Eiffel Tower, 1999 Farbfoto ALBERTINA, Wien – The ESSL Collection
Ai Weiwei
Forever Bicycles, 2003
42 Fahrräder
Privatsammlung
ALBERTINA, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei, Forever Bicycles, 2003, 42 Fahrräder Privatsammlung
Ai Weiwei
Marble Sofa, 2011
Marmor
Privatsammlung
ALBERTINA, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei, Marble Sofa, 2011, Marmor, Privatsammlung
Ai Weiwei
Map of China, 2004
Holz
Privatsammlung
ALBERTINA, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei, Map of China, 2004, Holz, Privatsammlung
Ai Weiwei
S.A.C.R.E.D. (i) S upper, 2013
1 von 6 Dioramen aus Fiberglas und Eisen
Courtesy of the artist and Lisson Gallery
Courtesy Ai Weiwei Studio and Lisson Gallery © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei, S.A.C.R.E.D. (i) S upper, 2013, 1 von 6 Dioramen aus Fiberglas und Eisen, Courtesy of the artist and Lisson Galler,y
Ai Weiwei
Handcuffs, 2012
Jade
Privatsammlung
ALBERTINA, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei, Handcuffs, 2012, Jade, Privatsammlung
Ai Weiwei
Surveillance Camera with Plinth, 2015
Marmor
Privatsammlung
Albertina, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei, Surveillance Camera with Plinth, 2015, Marmor, Privatsammlung
Ai Weiwei
Odyssey, 2017
Wandtapete
Courtesy of the artist
: Courtesy Ai Weiwei Studio
Ai Weiwei, Odyssey, 2017, Wandtapete, Courtesy of the artist
Ai Weiwei
Zodiac (Dragon), 2019
LEGO-Bausteine
Privatsammlung
Albertina, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei, Zodiac (Dragon), 2019, LEGO-Bausteine, Privatsammlung
Ai Weiwei
Neolithic Vase with Coca-Cola Logo, 1994
Tongefäß, , Industriefarbe
Privatsammlung
Albertina, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei, Neolithic Vase with Coca-Cola Logo, 1994, Tongefäß, Industriefarbe, Privatsammlung

Konzeptkunst trifft Aktivismus

Abseits der sozialen Netzwerke hat Chinas bekanntester Künstler – zumindest für den Westen trifft diese Etikette zu – eine Vorliebe für Projekte im ganz großen Maßstab. 2007 ließ er 1.001 Chinesen zur documenta nach Kassel einfliegen. 2010 füllte er die 1.000 Quadratmeter große Turbinenhalle der Tate Modern in London mit 100 Millionen Sonnenblumenkernen aus Porzellan. Handbemalte Sonnenblumenkerne aus feinster chinesischer Keramik waren es, die dem Besucher, der Besucherin ein sinnliches Erlebnis bescherten.

Man konnte mit bloßen Füßen durch das Sonnenblumenkernmeer waten oder sich in Details der filigranen Handarbeit vertiefen. Ein eigener Raum in der Albertina modern erinnert an diese legendäre Installation, die wohl ohne Übertreibung jedem im Gedächtnis geblieben ist, der sie gesehen hat: Hinter den Sonnenblumenkernen, die zu einem Haufen aufgeschüttet wurden, waren in einer Vitrine Urnen ausgestellt, darin der Staub antiker Vasen. Den Zauber, den die monumentale Arbeit in der Tate Modern entfaltete, erlebt man hier nur als Schwundstufe. Insgesamt gibt „In Search of Humanity“ einen guten Überblick über thematische Leitmotive des Künstlers Ai.

Maos Sonnenblumen

Große installative Setzungen wie im Belvedere 21, als Ai 2017 eine hölzerne Ahnenhalle aus der Ming Dynastie fast nahtlos in die transparente Architektur des Schwanzer-Baues einfügte, wird man in dieser Ausstellung aber nicht finden.

Ai Installationen erzielen eine unmittelbare Wirkung und befragen auf einer zweiten Ebene die gesellschaftliche Matrix – beleuchten zum Beispiel das Verhältnis von Masse und Individuum, industrieller Massenproduktion und Handwerk. Das Motiv der Sonnenblumenkerne war nicht zufällig gewählt. Schließlich ließ sich Mao Zedong in Propagandadarstellungen gerne als Sonne abbilden, während die Arbeiter der Volksrepublik zu Sonnenblumen stilisiert wurden, die unter der Sonne Maos gedeihen.

Duchamp als Wahlverwandter

In den 1980er Jahren lebte der junge Ai in New York. Der Künstler selbst bezeichnete diese Jahre als Zeit des Müßiggangs. Auch Arbeiten aus dieser frühen Schaffensperiode, in der sich Ai zunächst der Malerei widmete, sind in der Ausstellung „The Search of Humanity“ zu sehen. Es sind Arbeiten, die man bisher kaum gesehen hat – für jene, die Ai Oeuvre kennen, ist dieser Teil der Ausstellung wohl am interessantesten. In New York erfand sich der Künstler, der in einer kollektivistischen Gesellschaft sozialisiert wurde, in der das Konzept Individualität nicht existiert, neu. In den USA lernte Ai auch die westliche Avantgarde kennen, vor allem der Konzeptkunstpionier Duchamp beeindruckte ihn nachhaltig.

Bis heute oszilliert Ai künstlerische Produktion zwischen zwei Polen: zwischen der westlichen Avantgarde einerseits, die die Tradition zertrümmert, um einen neuen, unverfälschten künstlerischen Ausdruck zu finden, und der jahrtausendealten chinesischen Tradition andererseits, aus deren kulturellen Fundus Ai schöpft. Sie ist der Humus seiner Kunst. Für seine Arbeiten eignet sich Ai immer wieder Objekte der Vergangenheit an. Er bemalt antike Vasen mit Industriefarbe, zersägt chinesische Antiquitäten und zimmert daraus Skulpturen.

Dass die brachiale Modernisierung, die Chinas Machthaber seit der wirtschaftlichen Öffnung des Landes vorantreiben, keinerlei Respekt vor den Traditionen kennt, dokumentiert Ai in zahlreichen Fotografien, die den urbanen Kahlschlag in Peking abbilden. Ai ist der Chronist einer Welt, in der ganze historische Stadtviertel über Nacht verschwinden können.

Blick auf brachiale Modernisierung

Spätestens seit 2008 kennt man Ai nicht nur als Künstler, sondern auch als politischen Aktivisten. Als bei einem verheerenden Erdbeben in Sichuan fast 70.000 Menschen ums Leben kamen, darunter auffallend viele Schulkinder, begann Ai, unbequeme Fragen zu stellen. Mit akribischer Genauigkeit recherchierte Ai gemeinsam mit seinen Mitarbeitern die Namen der Erdbebenopfer und publizierte diese Namenslisten in seinem Blog.

In der Ausstellung „In Search of Humanity“ sind Tafeln mit den Namen und Geburtsdaten der Opfer zu sehen sowie eine Installation, die Stahlstreben eingestürzter Häuser im Raum platziert. Aufgrund seines Engagements wurde Ai im August 2009 zum ersten Mal verhaftet.

Die Angst vor den Fakten

Nachdem der chinesische Systemkritiker Liu Xiaobo im Oktober 2010 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, gingen die chinesischen Machthaber mit äußerster Härte gegen die Opposition vor. Auch Ai wurde festgenommen und an einem unbekannten Ort festgehalten. Den Raum, in dem er 80 Tage lang unter Bewachung verbringen musste, hat der Künstler aus dem Gedächtnis nachgebaut – wohl die erschütterndste Arbeit, die in der Ausstellung „In Search of Humanity“ zu sehen ist.

Anwalt der Geflüchteten?

Auch nach seiner Inhaftierung ruhte Ai Blick auf dem Schicksal jener Menschen, die um Sichtbarkeit ringen. Im Windschatten der Migrationskrise 2015 machte Ai die Flüchtlingsströme zum Thema seiner Kunst und seines Aktivismus. Im barocken Reflexionsbecken des Belvedere gestaltete er etwa 2017 eine Installation aus 1.005 Schwimmwesten, die aus Lesbos stammten. Auch in Berlin setzte er im öffentlichen Raum ein sichtbares Zeichen, um auf die tragische Existenz der Vertriebenen aufmerksam zu machen. Am noblen Gendarmenmarkt umhüllte der Künstler die klassizistischen Säulen des Konzerthauses mit Schwimmwesten.

Ausstellungshinweis

Die Ausstellung „In Search of Humanity“ findet in der Wiener Albertina modern noch bis 4. September statt.

Nachdem sich auf einem Society-Event Promis in Wärmeschutzdecken, die bei der Erstversorgung von Flüchtlingen verwendet werden, hüllten und die entsprechenden Bilder in sozialen Netzwerken viral gingen, wurde jedoch Kritik laut. Auch als Ai das Bild des ertrunkenen Jungen Alan Kurdi nachstellte – eine Arbeit, die aktuell in der Albertina modern zu sehen ist – erntete er heftige Kritik. Profiliert sich der Künstler Ai auf Kosten des Leids anderer? Der Vorwurf wiegt schwer und ist womöglich ungerecht.

Die Themen Migration und Flucht haben den Künstler bereits beschäftigt, lange bevor die großen Migrationsströme Europa erreicht haben. „Ich bin als Flüchtling geboren. Mein Vater war ein regimekritischer Dichter, der verbannt worden ist“, so Ai: „Ich habe meine ersten 18 Jahre im Exil verbracht. Mein Vater musste öffentliche Toiletten putzen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, auf der Flucht zu sein.“

„Als Flüchtling geboren“

Ai versteht sich als Chronist einer Kultur, die dem Kahlschlag einer beschleunigten Modernisierung zum Opfer zu fallen droht. Seine Kunst hat eine Botschaft. Doch wie kaum ein anderer versteht sich Ai darauf, diese Botschaft in Kunstwerken zu kondensieren, denen nichts Plakatives anhaftet. Sie überzeugen mit formaler Strenge und Klarheit.