Die Statue „Bitter Memory of Childhood“ in Kiew zum Gedenken an die Hungerkatastrophe in der Ukraine 1932/33 bei der aufgrund der Politik des Sowjetdiktators Josef Stalin fast vier Millionen Menschen zu Tode kamen
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Holodomor

Wendepunkt für ukrainische Geschichte

Vor 90 Jahren sind auf dem Gebiet der heutigen Ukraine aufgrund der Politik des Sowjetdiktators Josef Stalin Millionen Menschen ums Leben gekommen. Die Schrecken jener Zeit beschäftigen das Land noch heute: So lässt nicht zuletzt der von Russlands Präsident Wladimir Putin geführte Krieg Erinnerungen daran wach werden. Für die Ukraine stelle die „Vernichtungserfahrung“ Anfang der 1930er zugleich ein „einigendes Element“ im Streben nach Unabhängigkeit dar, sagen Fachleute zu ORF.at.

Auf einer Anhöhe über dem Fluss Dnjepr in Kiew erinnert heute noch die Statue eines kleinen, ausgemergelten Mädchens mit trauriger Miene an die Hungersnot 1932 und 1933 – auch Holodomor (Tötung durch Hunger, Anm.) genannt. In den Händen hält sie fünf Ähren. Diese stehen symbolisch für ein damals gültiges Gesetz, das besagte, dass jede Person, die fünf Ähren von einem Feld pflückte, zu über zehn Jahren Haft oder gar zum Tode verurteilt werden konnte. Kinder waren davon nicht ausgenommen.

Das Ausmaß der Katastrophe lässt sich anhand der Figur des Mädchens, aber auch anhand der spärlichen Berichte aus jenen Jahren nur erahnen. Der ungarische Reporter Arthur Koestler, der als einer der wenigen westlichen Journalisten in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik einreisen durfte, berichtete etwa von Bahnhöfen, die „von bettelnden Bauern mit geschwollenen Händen und Füßen“ gesäumt waren. Die Frauen hielten „verhungernde Säuglinge mit stockartigen Gliedmaßen, riesigen, wackelnden Köpfen und geschwollenen Bäuchen an die Waggonfenster“.

Dieses Bild mit dem Titel „Mann in Charkow an Hunger gestorben 1933“ wurde 2006 in der ukrainischen Hauptstadt Kiew im Rahmen der Ausstellung „Deklassiertes Gedächtnis“ gezeigt
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„Mann in Charkow an Hunger gestorben 1933“: Dieses Bild wurde in Kiew bei der Ausstellung „Deklassiertes Gedächtnis“ gezeigt

Hungersnot als ukrainische „Vernichtungserfahrungen“

Die Menschen fielen Berichten zufolge auf den Feldern, auf den Straßen, auf dem Land wie auch in der Stadt aufgrund des Hungers tot um. In den Leichenhäusern sammelten sich unzählige leblose Körper. Vereinzelt wurde gar über Fälle von Kannibalismus berichtet. Drei bis vier Millionen Opfer brachte die Hungersnot allein in der damals rund 30 Millionen Einwohner umfassenden Ukraine, schätzen Fachleute. Wenngleich die Ukraine in absoluten Zahlen die meisten Toten zu beklagen hatte, so fielen der Hungersnot auch in anderen Teilen der Sowjetunion Hunderttausende Menschen zum Opfer.

Der Holodomor sei „fester Bestandteil der Vernichtungserfahrungen, die die Ukrainer und Ukrainerinnen im Laufe der Zeit im Kontakt mit Imperien beziehungsweise im Kontakt mit ausländischen Invasoren wie dem sowjetischen Imperium, davor dem russländischen Imperium und jetzt jenem von Wladimir Putin machen mussten“, sagt die Historikerin Kerstin Susanne Jobst von der Universität Wien zu ORF.at. „Es ist ein Stück Geschichte, und die Ukrainer erinnern sich daran als einen Versuch, sie auszulöschen“, wird die US-Historikerin Anne Applebaum in der „Washington Post“ zitiert. Das Bewusstsein, dass sie „vielleicht ausgelöscht werden könnten“, sei ein „Grund dafür, warum sie jetzt kämpfen“.

Buchhinweise

Kerstin S. Jobst: Geschichte der Ukraine. Reclam, 276 Seiten, 7,60 Euro.
Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. C. H. Beck, 523 Seiten, 29,95 Euro.
Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine. Siedler, 544 Seiten, 37,10 Euro.

Zwangskollektivierung und Entkulakisierung

Die Hungerkatastrophe in dem stark landwirtschaftlich geprägten Gebiet war vor allem Produkt fehlgeleiteter sowjetischer Politik in den Monaten und Jahren zuvor: Nachdem in Teilen der heutigen Ukraine für kurze Zeit infolge der Oktoberrevolution 1917 eine eigene Ukrainische Volksrepublik errichtet worden war, wurde diese 1920 als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik in das von den Bolschewiken regierte Sowjetrussland eingegliedert. Dabei kam es auch in den 1920ern zu Hungerkrisen.

Doch die Lage verschlechterte sich mit dem Wechsel der Regierenden nochmals drastisch: Hatte Revolutionsführer Wladimir Lenin den Bauern mit seiner Politik noch Freiheiten gelassen, so sollte sich das mit der Herrschaft von Stalin ab 1928 umfassend ändern. Unter Stalin wurde erst eine freiwillige Kollektivierung der Landwirtschaft und später aufgrund geringen Zuspruchs die Zwangskollektivierung (also die Eingliederung der Bauern in staatliche Wirtschaftsstrukturen) und Entkulakisierung beschlossen. Als Kulaken wurden damals wohlhabende Bauern bezeichnet, die Stalin ein Dorn im Auge waren.

Sowjetdiktator Josef Stalin 1940
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Stalin ordnete die Zwangskollektivierung an, die Bauern zwang, ihre Höfe aufzugeben und sich Großbetrieben anzuschließen

Hartes Vorgehen gegen bäuerlichen Widerstand

Vonseiten der Bauern sei aber erheblicher Widerstand gekommen, sagt der Historiker Kurt Scharr von der Universität Innsbruck gegenüber ORF.at. Manche schlachteten aus Ärger ihr Vieh oder zerstörten landwirtschaftliche Ausrüstung. Auf den Protest reagierte Stalin mit Deportationen, Exekutionen, Verhaftungen und Enteignungen.

„Gleichzeitig lanciert Stalin eine Politik der Industrialisierung“, erklärt der Historiker weiter. „Das muss er finanzieren. Und wie? Da gibt es ein altes Rezept – durch agrarische Exporte.“ Während landwirtschaftliche Erträge also ins Ausland und in die wachsenden Städte wanderten, blieb für die ländliche Bevölkerung immer weniger übrig.

Stalins „Mantel des Schweigens“

Das gipfelte in den 30ern schließlich im Holodomor. Die Hungersnöte wurden damals „sehr wohl in Kauf“ genommen, „weil man damit letztendlich diese soziale Schicht der bäuerlichen Bevölkerung, die Widerstand leisten könnte oder sich diesem System nicht einordnen ließ, mit einem Schlag ausschalten kann“, hält Scharr fest. Dass die breite Öffentlichkeit davon erfährt, war aber nicht gewünscht.

„Stalin hat zu der Zeit versucht, den Mantel des Schweigens über die Hungersnot zu legen“, sagt Jobst. Statistiken wurden geschönt. Die Bevölkerung wurde zudem daran gehindert, die Ukraine in Richtung Westen zu verlassen – zugleich sollte die ländliche Bevölkerung im Sinne der Aufrechterhaltung der Propaganda daran gehindert werden, in Städte wie Charkiw zu gehen. An der misslichen Lage war auch der Westen nicht unbeteiligt: „Die Weltöffentlichkeit hatte Kenntnis von diesen Ereignissen. Es gab aber auch Interessen seitens des Westens, diese Hungersnot nicht allzu sehr publik zu machen“, so Jobst mit Verweis auf sowjetische Getreideexporte ins Ausland.

Durst nach geheimer Geschichte

Tatsächlich blieb das Wissen über die verheerende Hungerkrise jahrzehntelang im Dunkeln. Das änderte sich erst unter der Regierung von Michail Gorbatschow Mitte der 80er Jahre. Dessen Transparenz- und Umbaupolitik habe den „Hunger der Leute nach einer Vergangenheit, die ihnen nicht zugänglich war“, befeuert, so Scharr: „Da kommt auch die Idee der ukrainischen Nation wieder auf.“

Wer von „heute auf morgen einen eigenen Staat errichten“ wolle, müsse den Menschen, die „auf diesem Territorium leben, etwas liefern“, erklärt der Historiker weiter. Neben abstrakten Staatsgrenzen seien das im Fall der Ukraine etwa eine lange Zeit unterdrückte Sprache und eine nicht immer homogene Geschichte – immerhin gehörten die unterschiedlichen Regionen der heutigen Ukraine über die Jahrhunderte auch zu unterschiedlichen Imperien.

Ansicht des Denkmals für die Opfer des Holodomor in Kiew (Ukraine)
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Denkmal für die Opfer der Hungersnot in Kiew

Ukraine fordert Anerkennung als Genozid

Da kommt die tragische Hungersnot in den 30ern ins Spiel. „Wenn ich den Holodomor hernehme und sage, dass dieser damals gezielt gegen die ukrainische Bevölkerung gerichtet war, dann liefert das ein einigendes Element in einem jungen Nationalstaat“, erklärt der Historiker in Anspielung auf die insbesondere in den 1990ern und den frühen 2000ern aufkeimende Genozid-Debatte.

Ein Völkermord oder Genozid ist ein Straftatbestand im Völkerstrafrecht. Nach der Definition der Vereinten Nationen (UNO) liegt ein Genozid etwa vor, wenn „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe in Teilen oder ganz zerstört“ wird. Bei der Bewertung, ob es sich um einen Genozid handelte, scheiden sich bis heute die Geister.

„Die ukrainische offizielle Meinung ist, dass es ein Hungergenozid gewesen ist“, hält die Historikerin Jobst fest. Bis heute fordert die Ukraine auch die internationale Anerkennung als Genozid. „Der offizielle russische Standpunkt ist, dass es keine gezielte Hungersnot gegen die Ukrainer war, weil auch viele Russen und andere gestorben sind. Es war anfänglich primär eine Folge der unglücklich gelaufenen Kollektivierung, und es sind auch viele Nichtukrainer gestorben“, erläutert die Expertin die russische Sicht. Zudem waren damals auch ukrainische Parteisekretäre für die Lage mitverantwortlich.

Fachleute uneins

Auch Fachleute sind sich in der Bewertung uneins. Die US-Historikerin Applebaum bezeichnet die Hungersnot etwa als einen geplanten und gezielten Massenmord, der US-Historiker Timothy Snyder sieht die Kriterien für eine Einstufung als Genozid gegeben. Laut Scharr ist Stalins Politik gegen eine soziale Schicht gerichtet gewesen, nicht aber per se gegen das ukrainische Volk. Jobst nimmt nach eigenen Worten hingegen „eine mittlere Position ein“.

„Ursprünglich war es für Stalin und seine Gruppe nicht als gezielte Aktion gegen Ukrainer und Ukrainerinnen geplant“, das habe sich im Laufe der Zeit gedreht, fügt Jobst hinzu: „Die antiukrainische Stoßrichtung der Aktion insgesamt hat sich im Laufe der Zeit im Kreml durchgesetzt“, sagt sie. Nicht zuletzt wurden in den 30ern auch zahlreiche ukrainische Intellektuelle deportiert.

Der ehemalige Präsident der Ukraine Wiktor Juschtschenko
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Der ehemalige Präsident Viktor Juschtschenko sah den Holodomor als Ereignis, mit dem sich alle Ukrainer identifizieren sollten

„Orange Revolution“ bringt neue Bedeutung

Die Hungersnot sei in den 1990ern und 2000ern im Zuge des „Nation-Building“ „politisch instrumentalisiert“ worden, sagt Scharr – vor allem auch durch Viktor Juschtschenko, der infolge der „Orange Revolution“ von 2005 bis 2010 Präsident war. Die ukrainische Historikerin Tatiana Schurschenko (Zhurzhenko) schrieb in einem Paper diesbezüglich: „Es war nach der Orange Revolution, dass der Holodomor Herzstück einer neuen Identitätspolitik wurde, die die ukrainische Nation als ‚postgenozidale‘ Gemeinschaft, als kollektives Opfer eines kommunistischen Regimes konzeptualisierte.“

Dabei habe jene offizielle Meinung auch innerhalb der Ukraine gemischte Reaktionen hervorgerufen, schreibt die Forscherin in dem Artikel aus dem Jahr 2011. „Dieses Ereignis steht wie kein zweites als Metapher für das ukrainische Leid unter dem sowjetischen Regime.

Die kollektive Erinnerung an den Holodomor spielte eine wichtige Rolle für die Protestierenden in der Ukraine in den Jahren 2013 und 2014“, meint der Historiker Serhij Plochy im „Spiegel“-Interview zur Bedeutung des Holodomor im 21. Jahrhundert.

Die Lüge lebt weiter

Dieser Tage wird einerseits wegen der kriegsbedingten prekären humanitären Lage in Teilen der Ukraine Alarm geschlagen, andererseits wird seitens UNO-Generalsekretär Antonio Guterres, aber auch aufgrund einer mit dem Krieg einhergehenden drohenden globalen Hungerkrise vor einem „Hurrikan des Hungers“ gewarnt. Vergleiche mit dem aktuellen russischen Angriffskrieg lehnen Scharr und Jobst aber ab.

Der russische Präsident Wladimir Putin
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Auch Putin beherrsche die Werkzeuge des „Täuschens und Tarnens“ perfekt, sagen Fachleute

Wenn, müsse der Vergleich auf einer Metaebene angesiedelt sein, sagt Scharr. „Das heißt: Was fließt in Putin zusammen?“, fragt der Historiker und liefert sogleich die Antwort darauf: „das Sowjetsystem, das per se verlogen war“, und die Strukturen, die dort mit den Vorgängerorganisationen des KGB geschaffen wurden, „deren Aufgabe es war, die Bevölkerung zu terrorisieren, kontrollieren und unterminieren“. Die Werkzeuge, wie man Leute manipuliert und kontrolliert, beherrsche Putin „perfekt“, betont Scharr.

So wie Putin seine Bevölkerung heute über die Invasion in der Ukraine belüge, so lebe auch die Lüge, die Stalin über die Hungersnot erzählte, weiter, schrieb die US-Historikerin Applebaum dazu. 2015 wurde auf der kremlnahen Website Sputnik News etwa ein Artikel mit dem Titel „Holodomor Hoax“ (Holodomor-Falschmeldung, Anm.) auf Englisch veröffentlicht. Die Hungersnot, heißt es da, sei „einer der berühmtesten Mythen und eines der giftigsten Werke von antisowjetischer Propaganda“.