Simmeringer U-Bahnsation in „Wozzeck“
APA/Wiener Statsoper/Michael Pöhn
Staatsopernpremiere

Wozzeck strandet in Simmering

Wenn an der Wiener Staatsoper heuer die „Opern aller Opern“, wie der Hausherr gerne sagt, im Rampenlicht stehen, dann darf in einer „Don Giovanni“-Saison offenbar „Wozzeck“ nicht fehlen. Am Montagabend hatte dieses Werk des Irrsinns in der Handschrift von Simon Stone Premiere. Ist bei Stone Medea im Bobo-Milieu angesiedelt, dann muss Wozzeck bei ihm zum Würstelstand nach Simmering.

Büchners „Woyzeck" ist ein Paradoxon, das sich gut mit dem Mozart-Requiem vergleichen lässt: ein Fragment, im Verlauf der Jahrhunderte von vielerlei Händen gestückelt und ergänzt und doch von rätselhafter Vollkommenheit. Unter dem auf einer fehlerhaften Edition beruhenden Titel „Wozzeck" gab Alban Berg dem Wunder in den 1920ern die Gestalt für die Ewigkeit. Und in der lässt man es tunlichst unbehelligt, wie Adolf Dresen es anno 1987 in seiner bis 2014 gezeigten Staatsoperninszenierung exemplarisch unternommen hat.

Stone, der nun am Werk war, folgt solchen Tugenden nicht. Sein Konzept ist zwar zweifellos schlüssig: die Welt als weiß gekacheltes Versuchslabor, in dem Wozzeck, die arme Kreatur, in den Irrsinn therapiert wird. Bricht die Paranoia dann im Vollbild aus, überwuchert mannshohes Gestrüpp die Bühne von Bob Cousins: Aus dem Dickicht der Seele gibt es keinen Weg als den in den Untergang.

Schauspieler in „Wozzeck“
APA/Wiener Statsoper/Michael Pöhn
Die Seele ist ein Dickicht: Christian Gerhaher als Wozzeck, Anja Kampe als Marie

Verzwergung der Archetypen

Stone überzeugt durch starke Personenführung und einige nachdrückliche Bilder, etwa den Höllentanz der Fratzen in Wozzecks Kopf. Auch verschont uns der in Wien bühnenübergreifend vielstrapazierte Australier diesmal mit den Videos, denen er oft üppig zuspricht. Doch bleibt als Kernproblem seines Wirkens (nebst einem Faible für das Anwerfen der Drehbühne im ungeeigneten Augenblick) die Tendenz zu flacher Aktualisierung und Verzwergung der archetypischen Menschheitsmythen.

„Wozzeck“ an der Wiener Staatsoper

Regie-Berserker Simon Stone verlegt „Wozzeck“ in die Gegenwart nach Wien und entwirft das Psychogramm eines Femizids. Wozzeck ist Leiharbeiter, ein Außenseiter, der ausgenutzt und benutzt wird, der zurückschlägt und mordet. Er ist ein Opfer, das wirkliche Opfer allerdings ist seine Frau.

Wie „Medea" kein Ehekonflikt unter New Yorker Bobos ist, lässt sich auch „Wozzeck" nicht unbeschädigt an einen Würstelstand mit „Käsekrainer"-Banderole oder in die U-Bahn-Station Simmering verbringen. Statt in der angstgrauen Einsamkeit des freien Feldes schaudern Wozzeck und Andres in der Warteschlange vor dem Wiener Arbeitsmarktservice. Hier, lässt uns die Regie wissen, ist der Platz verflucht und der Boden unterhöhlt. Aber die Szene, eine der nachdrücklichsten der Operngeschichte, ist kaputt. Dass Wozzeck nach der eindringlichen Selbstmordszene minutenlang vom Schnürboden baumelt, ist schlicht infantil.

Charaktere streiten in „Wozzeck“
APA/Wiener Statsoper/Michael Pöhn
Simon Stone oder die Verzwergung des Archetyps

Erstklassiges im Musikalischen

Unbestritten Erstklassiges ereignet sich im Musikalischen. Orientiert man sich an den beiden Maßstabsetzern – Karl Böhm mit seinen glühenden spätromantischen Schmerzenskantilenen und Pierre Boulez mit seiner ins Herz schneidenden Sachlichkeit –, so sind die Philharmoniker und Philippe Jordan fraglos Böhm verpflichtet. Das hier ist Originalklang mit ungeheuren Eruptionen, prachtvoller Farbentfaltung und betörend schönen Streichersoli.

Premierenbericht aus der Wiener Staatsoper

„KulturMontag“ mit einem Premierenbericht vom aktuellen Stück „Wozzeck“ an der Wiener Staatsoper.

Gesanglich bleibt fast kein Wunsch unerfüllt. Christian Gerhaher, der große Verinnerlicher, stellt einen stimmlich und auratisch überzeugenden Schmerzensmann auf die Bühne. Anja Kampe ist auch in der schicken Gemeindewohnung eine rasend intensive, stimmgewaltige Marie. Glänzend Jörg Schneiders Hauptmann (hier unterirdischerweise bei der Wiener Polizei beschäftigt), tadellos Dimitry Belosselskiys Doktor, Josh Lovells Andres, Christina Bocks Margret, Thomas Ebensteins Narr, beide Handwerker und das Kind.

Sean Panikkar, dem gleichfalls bei der Exekutive tätigen Tambourmajor, wünschte man allerdings noch ein paar Durchgänge im Fitnesscenter, in dem Wozzeck zuvor seinen Peinigern ausgeliefert ist.