Boris Johnson und  US-Präsident Joe Biden hören die Rede von  NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg
Reuters/Evelyn Hockstein
Ukraine-Krieg

NATO erhöht Druck auf China

Die NATO fordert von China eine klare Positionierung gegen Russlands Angriff auf die Ukraine. „Wir fordern China auf, sich dem Rest der Welt anzuschließen und den russischen Einmarsch in die Ukraine klar zu verurteilen und keine politische Unterstützung zu leisten“, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Donnerstag am Rande des NATO-Sondergipfels zum Ukraine-Krieg. US-Präsident Joe Biden hat indes einen Gipfelmarathon zu bewältigen.

Neben dem NATO-Gipfel wird Biden auch beim G-7-Treffen und auf dem EU-Gipfel erwartet. Stoltenberg warf indes China bereits im Vorfeld des NATO-Gipfels vor, die russische Invasion mit Lügen und künftig möglicherweise auch mit Kriegsmaterial zu unterstützen. China ist ein einflussreicher Verbündeter Moskaus und hat den russischen Einmarsch in die Ukraine bisher nicht verurteilt.

China wies die Vorwürfe von Stoltenberg, Russland im Ukraine-Krieg zu unterstützen, als „Desinformation“ zurück. „China vorzuwerfen, falsche Informationen über die Ukraine zu verbreiten, stellt selbst eine Verbreitung von Desinformation dar“, sagte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums am Donnerstag in Peking. Chinas Position sei im Einklang mit „den Wünschen der meisten Länder“.

 US-Präsident Joe Biden und  NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg
APA/AFP/Brendan Smialowski
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und US-Präsident Joe Biden auf dem Weg in den Konferenzraum

„Himmelschreiende Lügen“

„Wir waren immer der Auffassung, dass die Ukraine eine Brücke zwischen Ost und West werden und nicht an der Front eines Spiels zwischen Supermächten stehen sollte“, sagte der Sprecher weiter. Stoltenberg hatte China am Mittwoch vorgeworfen, Russland im Ukraine-Krieg mit „himmelschreienden Lügen“ zu unterstützen. „Die Verbündeten sind besorgt, dass China die russische Invasion auch mit Material unterstützen könnte“, sagte Stoltenberg am Donnerstag weiter.

Stoltenberg warf Peking zudem vor, wie Moskau „das Recht unabhängiger Nationen infrage zu stellen, ihren eigenen Weg zu wählen“. Die USA haben China vorgeworfen, die „Bereitschaft“ signalisiert zu haben, Russland mit militärischer und wirtschaftlicher Hilfe zu unterstützen. China hat es bisher abgelehnt, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verurteilen.

Überblicksaufnahme vom NATO-Gipfel
APA/AFP/Thomas Coex
Ein Blick in den NATO-Konferenzraum

NATO droht Russland bei Einsatz von Chemiewaffen

Russland stellt nach Ansicht von Stoltenberg derzeit keine akute Gefahr für die Alliierten dar. Laut Stoltenberg ist die NATO gut aufgestellt. „Wir sind das stärkste Bündnis der Welt“, sagte Stoltenberg. „Solange wir zusammenstehen, sind wir sicher.“

Die NATO drohte Russland im Fall eines Einsatzes von Massenvernichtungswaffen im Ukraine-Krieg mit harten Konsequenzen. „Jegliche Verwendung chemischer oder biologischer Waffen durch Russland wäre inakzeptabel und würde schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen“, hieß es in der am Donnerstag in Brüssel veröffentlichten Abschlusserklärung des NATO-Sondergipfels. Ähnlich hatte sich zuvor bereits Biden geäußert.

Stoltenberg bleibt wegen des russischen Kriegs gegen die Ukraine ein weiteres Jahr Generalsekretär der NATO. Die Bündnisstaaten hätten beim Gipfeltreffen entschieden, das Mandat des Norwegers bis zum 30. September 2023 zu verlängern, teilte das Verteidigungsbündnis am Donnerstag mit. Er fühle sich geehrt, so Stoltenberg via Twitter.

Selenski fordert mehr Militärgerät

Die Ukraine forderte bei der NATO mindestens 200 Panzer an. „Sie haben mehr als 20.000 Panzer. Die Ukraine hat um ein Prozent gebeten“, sagte Präsident Wolodymyr Selenski am Donnerstag bei einer Videoschaltung zum außerordentlichen NATO-Gipfel. Kiew würde sie auch kaufen. „Wir haben bisher keine klare Antwort“, so Selenski. Ähnlich sehe es bei den angeforderten Flugzeugen und Abwehrsystemen für Raketen aus.

Brüssel würde keine deutlichen Antworten geben. „Ich bitte darum, Ihre Einschätzung zu ändern und an die Sicherheit in Europa und in der Welt zu denken“, appellierte Selenski an die Mitglieder der westlichen Militärallianz. Die NATO solle Kiew ein Prozent ihrer Panzer und Flugzeuge überlassen.

Drei Ukraine-Gipfel in Brüssel

Gleich drei Gipfeltreffen an einem Tag gibt es selten in Brüssel: Den Anfang im Gipfeltrio macht die NATO. Das Militärbündnis bespricht das weitere Vorgehen, danach findet ein G-7-Gipfel der führenden Wirtschaftsnationen statt und ab dem Donnerstagnachmittag dann ein Europäischer Rat mit allen EU-Regierungschefs – Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) wird dabei auf US-Präsidenten Biden treffen.

Zugleich solle Brüssel aufhören, von der Ukraine für einen Beitritt NATO-Standards zu verlangen. „Wir haben gezeigt, wozu unsere Standards in der Lage sind“, so der Staatschef. Kiew sei in der Lage, zur allgemeinen Sicherheit in Europa beizutragen. Die Ukraine hatte vor Kriegsbeginn vor vier Wochen internationalen Experten zufolge mehr als 900 Panzer und über 1.200 Schützenpanzerwagen. Moskau will davon bereits mehr als 1.500 zerstört haben. Kiew machte bisher keine Angaben zu eigenen Verlusten an Militärgerät.

NATO stockt Truppen an Ostflanke auf

Die NATO kündigte zum Auftakt ihres Gipfels eine Neuorganisation an der östlichen Grenze des Bündnisses an. Es gehe um eine „langfristige Neuaufstellung“, sagte Stoltenberg. Die bereits zur Verstärkung entsandten Soldaten im östlichen Teil des Bündnisses sollten „so lange bleiben wie nötig“, sagte Stoltenberg. Zusätzlich sollten vier neue Gefechtseinheiten nach Bulgarien, Rumänien, Ungarn und in die Slowakei entsandt werden. Er bekräftigte, dass die NATO „weder Soldaten noch Flugzeuge“ in die Ukraine schicken werde.

Der kanadische Premierminister Justin Trudeau sieht das ebenfalls so: „Die NATO und ihre Partner sind sich einig, Russland zu verurteilen und die Ukraine zu unterstützen“, so Trudeau. Estlands Regierungschefin Kaja Kallas forderte am Donnerstag mehr Unterstützung der NATO für die Ukraine. „Ich glaube, wir müssen unsere Anstrengungen verdoppeln“, sagte Kallas am Rande des NATO-Gipfels. Der russische Präsident Wladimir Putin dürfe den Krieg nicht gewinnen. „Das ist für uns alle sehr wichtig, auch für die Sicherheit der NATO.“ Dabei solle man mehr darüber sprechen, was man tue – und nicht darüber, was man nicht tue.

Publizistin Stelzenmüller zur Rolle der USA

Constanze Stelzenmüller, Publizistin und Juristin der US-Denkfabrik Brookings, kommentiert das bisherige Vorgehen der USA im Ukraine-Krieg. Sie geht auch auf die desaströsen Umfragewerte Joe Bidens ein, der ganz untypischerweise auch in Krisenzeiten bei den US-Amerikanern unbeliebt bleibt.

Warnung vor Einsatz chemischer Waffen

Mit Blick auf den möglichen Einsatz chemischer Waffen durch Moskau sagte Kallas, man sei sehr besorgt darüber, was Russland tue. „Putins Schritte sollen auch uns Angst machen, damit wir davon abgehalten werden, der Ukraine weiter zu helfen oder zusätzliche Schritte zu unternehmen“, sagte Kallas. In diese Falle dürfe man nicht tappen. „Wir müssen den Kriegsverbrecher stoppen.“

ORF-Korrespondent Robert Zikmund über das Gipfeltrio

ORF-Korrespondent Robert Zikmund berichtet vom Gipfeltrio am Donnerstag in Brüssel.

Auch der belgische Premierminister Alexander De Croo warnte vor dem Einsatz chemischer Waffen in der Ukraine. „Es ist der Fall, dass, wenn chemische Waffen oder etwas anderes genutzt werden, das definitiv schwere Konsequenzen haben würde.“ Weniger besorgt zeigte sich Sloweniens Regierungschef Janez Jansa: „Ich persönlich glaube nicht, dass das russische Militär selbst chemische oder biologische Waffen absichtlich für taktische Zwecke einsetzen wird“, sagte Jansa. „Das wäre (…) sehr unklug und ein Schuss ins eigene Knie.“

Der kanadische Premier Justin Trudeau
AP/Geert Vanden Wijngaert
Auch Kanadas Premierminister Justin Trudeau wird am Donnerstag in Brüssel sein: auf dem G-7-Gipfel

Johnson sieht rote Linie überschritten

Putin habe mit dem Krieg gegen die Ukraine nach den Worten des britischen Premiers Boris Johnson einen Tabubruch begangen. „Wladimir Putin hat die rote Linie zur Barbarei bereits überschritten“, antwortete Johnson am Donnerstag am Rande des NATO-Sondergipfels auf die Frage, ob der Einsatz von Chemiewaffen eine rote Linie sei.

Die NATO müsse jetzt prüfen, was noch getan werden könne, um die Ukraine zu unterstützen und die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland zu verschärfen. „Je härter unsere Sanktionen, je härter unser wirtschaftlicher Schraubstock um das Putin-Regime, desto mehr können wir den Ukrainern helfen, desto schneller könnte die Sache vorbei sein, glaube ich.“

China-Frage auch bei G-7

Nach dem NATO-Gipfel dürfte auch die Gruppe der sieben, zu der neben Deutschland und den USA noch Frankreich, Italien, Kanada, Großbritannien und Japan zählen, über die gemeinsame Haltung zu China debattieren. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) empfing als aktueller G-7-Vorsitzender am Donnerstag US-Präsident Biden sowie die Staats- und Regierungschefs der anderen Länder in der belgischen Hauptstadt. Biden hatte Peking zuletzt mit Konsequenzen gedroht, sollte es Moskau bei den „brutalen Angriffen“ auf die Ukraine unterstützen.

Der US-Präsident verwies dabei auf die starken Sanktionen des Westens gegen Russland. Der stellvertretende chinesische Außenminister Le Yucheng nannte diese Sanktionen indes kürzlich „empörend“. Ob die Europäer Strafmaßnahmen gegen China mittragen würden, gilt als ungewiss.

Die USA verhängen Sanktionen gegen mehr als 400 weitere Russen und russische Unternehmen. Wie das Weiße Haus am Donnerstag anlässlich der Teilnahme von Biden an Gipfeltreffen von NATO, G-7 und EU in Brüssel mitteilte, sollen unter anderem 48 Rüstungsunternehmen, 328 Mitglieder der Duma und zahlreiche Bankenmanager mit Sanktionen belegt werden.

EU-Gipfelentwurf: Russland begeht Kriegsverbrechen

Mit Biden als Gast ist es das erste Mal in der Geschichte, dass ein US-Präsident an einem EU-Gipfel teilnimmt. Die Europäische Union dürfte der US-Regierung in der Einschätzung folgen, dass Russland in der Ukraine Kriegsverbrechen begeht.

Im jüngsten Entwurf der Abschlusserklärung für den EU-Gipfel heißt es: „Russland führt Angriffe auf die Zivilbevölkerung durch und zielt auf zivile Objekte, darunter Krankenhäuser, medizinische Einrichtungen, Schulen und Schutzräume. Diese Kriegsverbrechen müssen sofort aufhören.“ In einem vorherigen Entwurf war noch von „Verbrechen“ die Rede. Am Mittwoch hatte die US-Regierung russischen Truppen in der Ukraine erstmals offiziell Kriegsverbrechen vorgeworfen.

In dem Entwurf, der der dpa vorliegt, fordern die 27 EU-Staaten Russland dazu auf, den Angriff auf die Ukraine unverzüglich zu beenden, alle Kräfte und das gesamte Gerät abzuziehen und die territoriale Integrität, die Souveränität und die Unabhängigkeit der Ukraine in ihren international anerkannten Grenzen anzuerkennen. Zivilisten, die im Kriegsgebiet eingeschlossen seien, müssten es sicher verlassen können, alle Geiseln unverzüglich freigelassen und ungehinderter humanitärer Zugang gewährt werden. Russland müsse seinen Verpflichtungen aus dem internationalen Recht nachkommen.

Die EU sagt dem Entwurf zufolge zu, weiter koordinierte politische, finanzielle, materielle und humanitäre Unterstützung für die Ukraine zu leisten. Man sei zudem bereit, rasch weitere Sanktionen zu beschließen. Jeder Versuch, die bereits beschlossenen Sanktionen zu umgehen oder Russland anderweitig zu helfen, müsse gestoppt werden.