Schwedischer Chefepidemiologe Anders Tegnell
APA/AFP/Tt News Agency/Jessica Gow
Schweden

Posse um WHO-Job von Anders Tegnell

„Umstrittener schwedischer Chefepidemiologe wechselt zur WHO“: Vor gut zwei Wochen schien die berufliche Zukunft von Anders Tegnell gesichert. Das Gesicht des schwedischen Coronavirus-Managements sollte als Experte zur Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehen. Doch dort zeigte man sich über die Ankündigung „überrascht und verwirrt“.

Tatsächlich waren Anfang März dieses Jahres nicht wenige erstaunt, als die schwedische Gesundheitsbehörde Folkhälsomyndigheten den Wechsel von Tegnell öffentlichkeitswirksam mitteilte: Der 65-Jährige werde sein Amt bei der Behörde niederlegen und künftig in der WHO im Bereich der CoV-Impfstoffverteilung tätig sein. „Ich arbeite seit 30 Jahren mit Impfstoffen und habe mich für internationale Themen begeistert“, wurde Tegnell in der Mitteilung zitiert. „Nun werde ich die Möglichkeit haben, zu dieser umfassenden Arbeit beizutragen.“

Doch nach Recherchen des schwedischen „Svenska Dagbladet“ dürfte der angekündigte Jobwechsel, über den weltweit berichtet wurde, in der WHO für „eine gewisse Verwirrung“ gesorgt haben. Denn erstens sei das eine „interne Frage“ und zweitens existiere ein solcher Job noch gar nicht, hieß es in einem diese Woche veröffentlichten Bericht. „Wir haben ein Angebot aus Schweden erhalten. Darüber wird noch diskutiert“, wird eine WHO-Pressesprecherin zitiert.

Kein Staatsepidemiologe mehr

Medienberichten zufolge räumte am Donnerstag der Pressechef der schwedischen Gesundheitsbehörde einen Fehler ein. Es habe sich bei der Ankündigung um einen Irrtum gehandelt, denn die Verhandlungen seien noch nicht abgeschlossen. „Wir haben geglaubt, die Gespräche sind bereits abgeschlossen, aber das waren sie nicht“, sagte Christer Janson in einem Interview mit „Expressen“. „Es war ein viel längerer Prozess, als wir gedacht hatten. Es gab ein Missverständnis, und wir bedauern das.“

Schwedischer Chefepidemiologe Anders Tegnell bei einer Pressekonferenz
APA/AFP/Tt News Agency/Fredrik Sandberg
Tegnell war neun Jahre lang Schwedens Chefepidemiologe

Gegenüber Bloomberg sagte Janson, dass die WHO Schweden um die technische Unterstützung für eine „neu gegründete Gruppe“ bat. Diese Gruppe soll die zwischen der WHO, dem UNO-Kinderhilfswerk (UNICEF) und der Impfallianz GAVI koordinieren. Dabei gehe es unter anderem darum, Ländern Coronavirus-Impfstoffe zur Verfügung zu stellen, die es sich nicht leisten können, diese Mittel selbst einzukaufen.

In Abstimmung mit der schwedischen Regierung habe sich die staatliche Gesundheitsbehörde entschieden, Tegnell für diese Aufgabe zu ernennen. Seinen Posten als Staatsepidemiologe und Abteilungschef hat er am 14. März deshalb abgegeben. Laut dem Sprecher bleibt Tegnell weiter bei der Gesundheitsbehörde angestellt, ist aber nicht mehr staatlicher Epidemiologe. Diesen Job hat bereits der Infektiologe Anders Lindblom übernommen.

Übersterblichkeit zu Beginn besonders hoch

Der promovierte Infektionsarzt war neun Jahre lang Schwedens führender Experte im Bereich der Epidemiologie. In der Coronavirus-Krise war er lange Zeit das Gesicht des „schwedischen Sonderwegs“ zur Bekämpfung der Pandemie. Schweden hatte dabei im Vergleich zu den meisten anderen Ländern Europas auf deutlich lockerere, freiwillige Maßnahmen gesetzt und an die Vernunft der Bürger und Bürgerinnen appelliert. Einen Lockdown gab es nie.

Für diese Strategie wurden Schweden und insbesondere Tegnell von den einen bejubelt, von den anderen hingegen kritisiert. Eine eingesetzte CoV-Kommission kam Ende Februar zum Schluss, dass Schweden mit zu wenigen Maßnahmen und zu spät auf die Krise reagiert hat. Das Land hätte schon zu Pandemiebeginn im Februar und März 2020 kräftigere und einschränkendere Maßnahmen ergreifen sollen, schrieb die Kommission in ihrem Abschlussbericht. Mangels eines Plans zum Schutz von Älteren und anderen Risikogruppen hätten strengere Maßnahmen damals Zeit für Analysen geschaffen.

„Schwedens Umgang mit der Pandemie war von Langsamkeit geprägt", hieß es bereits in einem Zwischenbericht. Das Land sei vor allem daran gescheitert, die Älteren in der ersten Pandemie­welle zu schützen. Gleichzeitig kam die Kommission aber auch zu dem Schluss, dass der schwedische Weg mit Ratschlägen und Empfehlungen, die die Menschen freiwillig befolgen sollten, generell richtig war. „Das bedeutete, dass die Bürger mehr von ihrer persönlichen Freiheit behalten konnten als in vielen anderen Ländern.“

Scharfe Kritik an Vorgehen

Härter mit dem schwedischen Pandemiemanagement ins Gericht geht allerdings eine jüngst veröffentlichte Studie. Die Strategie sei „einzigartig und durch einen moralisch, ethisch und wissenschaftlich fragwürdigen Laissez-faire-Ansatz gekennzeichnet“ gewesen. Es sei mehr Wert auf den Schutz des „schwedischen Images“ gelegt worden als auf die Rettung und den Schutz von Menschenleben. Schwedens Behörden hätten einen Lockdown verhindert, weil Ratschläge unabhängiger Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen als „extrem“ dargestellt wurden, schreiben die Autoren und Autorinnen.

Man habe sich nur auf die Expertise eines kleinen Zirkels innerhalb der staatlichen Gesundheitsbehörde verlassen. Schwedische Universitäten seien öffentlich gar nicht aufgetreten, und falls sich Forschende kritisch gegenüber dem schwedischen Weg geäußert haben, sei aktiv gegen diese vorgegangen, heißt es in der Studie. Gleichzeitig sei die Öffentlichkeit über Fakten zu Covid-19 im Unklaren gelassen worden – etwa dass das Coronavirus über die Luft übertragen wird, dass asymptomatische Personen ansteckend sein können und dass Masken sowohl Trägerinnen und Träger als auch andere Personen schützen.