„Terran“

Fliegen und das schlechte Gewissen

„Terran“ – ein neues Wort soll eine neue Realität schaffen, so ähnlich wie „vegan“. Es bedeutet Reisen ohne Flugzeug aus ökologischen Gründen. Es stellt sich die Frage, ob sich fortan alle schämen müssen, die noch fliegen – und was der mögliche Wegfall von Fernreisen für das kulturelle Selbstverständnis der Menschen bedeutet.

Jana Strecker, 31 Jahre alt, arbeitet ab nächster Woche im Umweltschutzamt Freiburg. Davor war sie als Ingenieurin im Bereich der erneuerbaren Energie tätig. Sie hat ihre Mission zum Beruf gemacht: die Zukunft zu reparieren. „Reparatur der Zukunft“ heißt auch eine Aktion von Ö1, in deren Rahmen Projekte vorgestellt werden, die vorausschauen und weiterdenken. Eines dieser Projekte hat Strecker gemeinsam mit Gleichgesinnten ins Leben gerufen.

Anlass war ein Vortrag darüber, dass das Fliegen nicht einfach nur schädlich ist fürs Klima, sondern schlicht und einfach das Allerschädlichste, was man als Individuum tun kann. Zuerst hat die Gruppe um Strecker eine Petition für das Verbot von Inlandsflügen erwogen, sich dann aber für einen positiven statt einen autoritären Ansatz entschieden. So ist die Lobbygruppe für das Wort „terran“ entstanden.

„Bin seit zwei Jahren terran“

Worte schaffen Realität: So ist seit dem Aufkommen des Begriffs „Flugscham“ in Schweden die Anzahl der Inlandsflüge deutlich gesunken. Und wer vegan lebt, muss sich heute längst nicht mehr so schief anschauen lassen wie noch vor 20 Jahren. Außerdem kann man so Erfolge feiern: „Ich bin seit zwei Jahren terran.“ Oder: „Heuer verreisen wir im Sommer einmal terran.“

„Terran“ zu reisen sei der Projektgruppe zufolge kein Verzicht, im Gegenteil. So könne die Anreise selbst zum Teil der Reise werden – im Zug bekomme man von der Umgebung viel mehr mit und mache Bekanntschaften, wenn erwünscht. Es gehe nicht um Scham, sondern um Freude über eine positive Alternative.

Viele schämen sich bereits

So sieht das auch Maria Kapeller, Jahrgang 1983. Die Reisejournalistin – sie betreibt das Magazin Kofferpacken.at – hat einige Flugmeilen auf dem Buckel, ihre letzten großen Reisen aber alle auf dem Land- und Seeweg bestritten. Sie kämpft auf mehreren Ebenen für ein nachhaltiges und solidarisches Reisen. Dieser Tage ist ihr lesenswertes Buch „Lovely Planet“ erschienen, das die Skurrilität der Welt des Reisens, wie wir sie kennen, humorvoll und kenntnisreich herausarbeitet und gänzlich ohne erhobenen Zeigefinger auskommt.

Ob man sich schämen muss, wenn man im Urlaub nach Griechenland fliegt, sei jedem und jeder selbst überlassen. Meistens bringe Scham nichts – man fliege eben trotzdem. Das zeigte sich auch bei einer kleinen Umfrage von ORF.at unter Passagieren auf dem Wiener Flughafen: Ja, man schäme sich – fliege aber trotzdem, sagten die meisten.

„Reparatur der Zukunft“

Ö1 stellt online und im Radio zahlreiche Projekte vor, die sich ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit widmen – mehr dazu in oe1.ORF.at.

Selfie als Reisemotivation

Etwas, so Kapeller, bringe die Scham aber doch: Sie weise auf eine kognitive Dissonanz hin, auf eine innere Diskrepanz. Und über die könne man nachdenken. Wenn sie sich nicht heuer auswirkt, dann vielleicht nächstes Jahr. Und man müsse ja nicht gleich alle Flugreisen bleiben lassen. Es sei schon ein Fortschritt, wenn man sich bei jeder einzelnen die Frage stelle: Worum geht es mir eigentlich? Entspannung, Abenteuer, neue Leute kennenlernen? Und kann ich das nicht auch anders haben? Wie auch Strecker von der Terran-Initiative sagt: Erholen kann man sich am Neusiedler See genauso gut.

Die Motive sind aber mittlerweile oft ganz andere, sagt Kapeller. Es geht um das Abarbeiten von Bucket-Lists und um die besten Selfies für Instagram. In ihrem Buch erzählt sie von einem Fremdenführer in einem malerischen Dorf in Marokko, das ständig von Touristen überlaufen ist, weil man vor den blau getünchten Häusern so gut Selfies machen kann. Mit chinesischen Touristen müsse er schon um 7.00 Uhr in der Früh raus, erzählte der Mann Kapeller. Nur zeitig in der Früh könne man noch Selfies machen, auf denen im Hintergrund kein anderer Mensch zu sehen sei.

Keine Freiheit, keine Individualität

In ihrem Buch zitiert Kapeller den Denker Hans Magnus Enzensberger, der schon in den 50er Jahren gesagt hat, Reisen sei „Freiheit auf Zeit. Das Reisen als Ventil für die Frustrationen des Lebens, das man so nicht will“. Eine Flucht aus den Zwängen der Industriegesellschaft. Aber da sei keine Freiheit abzuholen, denn das Reisen sei längst wie die Industrie von Normung, Montage und Serienfertigung gekennzeichnet. Am Ende ist das Selfie vor den blauen Häusern ähnlich individuell wie ein Nirvana-T-Shirt von H&M.

Die ganz große Reise – ganz selten

Gut, Massentourismus mag einen schalen Nachgeschmack haben, auch abgesehen vom ökologischen Fußabdruck. Aber ist das Reisen an ferne Ziele nicht unerlässlich für das kulturelle Verständnis aufgeklärter Menschen als Kosmopoliten? Nie in New York im Guggenheim gewesen sein? Eine Biografie, ohne je Südamerika oder Asien betreten zu haben? Ist das dann die Rückkehr zu Provinzialität, das Ende jeden kulturellen Austauschs?

Das ist eine schwierige Frage. Kapeller hat darauf mehrere Antworten. Etwa, dass man sich bewusst sein müsse, dass sich diese Frage den Menschen erst seit sehr kurzer Zeit stelle und außerdem global gesehen prozentuell nur sehr wenigen. Und dass es auch Menschen gebe, die keine Fernreisen absolvieren und trotzdem weltoffen sind – genauso wie es Kleinkarierte gebe, die ständig von Kontinent zu Kontinent fliegen. Dass man Reisen auch ganz anders planen könne, nämlich als große Reisen – ganz selten, aber dafür als etwas ganz Besonderes.

Buchhinweis

Maria Kapeller: Lovely Planet. Kremayr & Scheriau, 224 Seiten, 23 Euro.

„Flexiterran“ sein ist auch okay

Dafür plädiert auch Strecker. Man müsse nicht immer terran sein. Aber wenn schon weit reisen, dann solle man das von langer Hand planen und lange bleiben, um ein Land und seine Menschen wirklich kennenzulernen, im Rahmen eines beruflichen Auslandsaufenthaltes oder, wenn man sich das leisten kann, einer Bildungskarenz oder eines Sabbaticals.

Weder sie noch ihre Mitstreiter, sagt Strecker, würden wollen, dass alle nur noch zu Hause bleiben. Man dürfe im Ausland Erfahrungen sammeln, das sei auch für die Völkerverständigung wichtig. Es komme eben auf das Wie und vor allem auf das Wie oft an.

Reisetipp für den kommenden Sommerurlaub

Hat Kapeller einen Tipp für all jene, die gerade den aktuellen Sommerurlaub planen? Hat sie, sie ist ja Reisejournalistin. Aber es geht dabei nicht um eine Destination: „Machen Sie sich die Fakten klar. Werden Sie sich Ihrer Werte bewusst. Stellen Sie sich vorab selbst viele Fragen nach dem Wie, Wo und Warum der geplanten Reise. Finden Sie darauf ehrliche Antworten, mit denen Sie gut leben können. Und entscheiden Sie erst dann, wie und wo Sie Ihren Urlaub verbringen.“