Szene aus dem Film  „Abteil Nummer 6“
Aamu Film Company/Sami Kuokkanen
„Abteil Nr. 6“

Eine Zugsfahrt Richtung Freundschaft

Die ungeplante Begegnung zwischen zwei Reisenden in einem russischen Fernzug eröffnet neue Perspektiven auf die Welt: Der vielfach preisgekrönte finnische Film „Abteil Nr. 6“ ist verschmitzt, völkerverbindend und warmherzig – und könnte inzwischen infolge des Ukraine-Krieges gar nicht mehr gedreht werden.

Öffentliche Einsamkeit, die zeitweise Aufgabe der Privatsphäre und erzwungener Austausch mit Mitreisenden: Es gibt spezielle Situationen in Fernzugabteilen, die so unangenehm wie bereichernd ausfallen können. Als die finnische Archäologiestudentin Laura (gespielt von Seidi Haarla) in „Abteil Nr. 6“ eine Zugreise von Moskau nach Murmansk antritt, um sich dort mitten im Winter die berühmten Felszeichnungen am Meer anzusehen, will sie eigentlich nur ihre Ruhe.

Fast wäre sie umgekehrt, denn in Moskau hat sie, in einer schönen und politisch aufgeschlossenen Wohngemeinschaft voll junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, jene Frau zurückgelassen, die sie für ihre große Liebe hielt. Doch nun ist ihr Plan, solo nach Murmansk zu fahren und unterwegs ein kreatives Videotagebuch zu führen, um ihren Liebeskummer zu verarbeiten. Doch in dem Sechserabteil, das nun für drei Tage ihr Zuhause auf Schienen ist, reist auch der junge Ljoha (Juri Borissow), ein trinkfester Arbeiter, der keinerlei persönliche Grenzen respektiert.

Szene aus dem Film  „Abteil Nummer 6“
Aamu Film Company/Sami Kuokkanen
Zwangsweise zu zweit: Laura und Ljoha

Mit dem Zug tagelang durch ein friedliches Russland: Was vor wenigen Wochen für europäische Reisende noch möglich war, klingt derzeit wie eine Utopie. „Abteil Nr. 6“, die Verfilmung des gleichnamigen Romans der finnischen Malerin und Performancekünstlerin Rosa Liksom, ist ein beglückendes Kinoerlebnis – nicht nur für passionierte Bahnreisende.

Der Film ist eine verschmitzte, realistische Schilderung der Reisebedingungen in der russischen Staatsbahn Ende der Neunziger und zugleich die Beschreibung jener fast magischen, aus der Zeit gefallenen Möglichkeit, auf einer Fernreise jemanden kennenzulernen, der ganz woanders herkommt und hinwill im Leben als man selbst.

Wodka und Salzgurken gegen Liebeskummer

Für die Reisende Laura ist eine Flucht vor dem hygienisch herausfordernden, Wodka saufenden Ljoha im engen Zug nämlich nicht möglich. Als Alternative bleibt nur, ihren Liebeskummer wegzuschieben und sich mit dem Rüpel zu arrangieren. Bei einer längeren nächtlichen Fahrtunterbrechung in irgendeiner Provinzstadt nimmt Ljoha sie dann mit zu einer Freundin, und Laura entdeckt die heilsame Wirkung von Wodka, Freundschaft und Salzgurken auf ein gebrochenes Herz.

„Abteil Nr. 6“ unter der Regie von Juho Kuosmanen war die diesjährige finnische Einreichung zum Auslandsoscar. Er hat die literarische Vorlage, die in den 80er Jahren in der Sowjetunion spielt, in die späten 90er Jahre verlegt, wie Kuosmanen gegenüber ORF.at erzählt. Gedreht wurde der Film tatsächlich im fahrenden Zug, der von morgens bis abends unterwegs war. Das Team mietete eine Lokomotive und drei Waggons, einer davon ein Speisewagen, „so konnten wir unterwegs sogar Mittagspause machen“, so der Filmemacher.

Regisseur Juho Kuosmanen
Henri Vares
Der 1979 geborene Regisseur Juho Kuosmanen wurde 2016 in Cannes für „Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“ mit dem Prix un certain regard ausgezeichnet. „Abteil Nr. 6“ ist sein zweiter Langfilm.

„Das war der Grund, weshalb wir zumindest zehn Prozent staatliche russische Förderung brauchten, denn nur so hatten wir die nötigen Unterlagen, um im russischen Schienennetz zu drehen.“ Dieser russische Anteil kostete dem Film in Deutschland allerdings die Kinopremiere, beinahe wäre er von einer großen Kinokette als Folge des Ukraine-Krieges boykottiert worden – ein Boykott, der genau die Falschen getroffen hätte.

Wie aus einer anderen Welt

„Natürlich hat sich jetzt geändert, wie der Film gesehen wird“, so Kuosmanen. Zwar sei die Weltanschauung seines Films zutiefst human, „aber klar, weil die Rolle des zweiten Reisenden im Film ein Russe ist, wird der Film nun überschattet durch den Krieg“. Die Koproduzentin Natalia Drozd-Makan musste Russland inzwischen verlassen, weil sie sich öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen hatte und nach den neuen Gesetzen des Regimes mit Gefängnis bedroht war. „Für sie ist es praktisch nicht mehr möglich, in Russland zu arbeiten, solange Putin und seine Leute in Regierungspositionen sind.“

„Was in der Ukraine passiert, sind Akte des Terrors, komplette Zerstörung“, sagt Kuosmanen. „Dabei kenne ich auch ein ganz anderes Russland. Es war für uns Finnen in den Jahren vor Covid-19 ganz normal, von Helsinki mit dem Zug nach Moskau oder St. Petersburg zu reisen. Russland wurde immer mehr zu einem Teil unserer Welt, und jetzt ist es auf einmal, als wäre es wie vor 30 Jahren, als wäre da wieder ein Eiserner Vorhang.“

Szene aus dem Film  „Abteil Nummer 6“
Aamu Film Company/Sami Kuokkanen
Gastfreundschaft auf Russisch

Kuosmanen beschreibt Russland als „das Widersprüchlichste, das ich kenne“: Es sei unbeschreiblich, wie viel Herzlichkeit, Großzügigkeit und Gastfreundschaft er dort erlebt habe, und wie viel Terror das russische Regime zugleich ausübe.

„Der Gedanke, dass diese Dinge zugleich passieren, ist geradezu unvorstellbar – und jeden Tag, den dieser Krieg länger dauert, wird der Bruch größer.“ Die Freundschaft zwischen Laura und Ljoha in „Abteil Nr. 6“ ist zu einer schwermütigen Erinnerung daran geworden, wie viel Verbindendes zwischen Menschen aus unterschiedlichen Welten entstehen kann.