Kind mit Palmzweig vor blauer und gelber Farbe
Pascal Victor/Festival Aix/Festwochen
„Requiem“

Castellucci, Mozart und der Krieg

„In Zeiten des Krieges stellen sich für uns alle dringlichere Fragen, auch für die Kunst.“ Das sagt Regisseur Romeo Castellucci, der gerade in Wien im Rahmen eines vorgezogenen Festwochen-Events seine Version von Wolfgang Amadeus Mozarts „Requiem“ zeigt. Viel elementarer, tröstlicher hat man Mozarts letztes Werk vielleicht noch nicht gesehen als in dieser Inszenierung. Es ist keine Totenmesse, sondern ein Werk, das an die Kraft der Gesellschaft glaubt und auch die Fesseln eines letztlich elitären Kunstbegriffs sprengt.

Für den Italiener Castellucci lebt die Gesellschaft nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine in einem Ausnahmezustand und in einem Moment dauernder Selbstüberforderungen. „Wie die Religion stellt sich die Kunst zentralsten Fragen“, sagt Castellucci auch vor der mit seiner langjährigen Dramaturgin Piersandra Di Matteo erarbeiteten Wiener Produktion des „Requiems“ von Mozart, das mit Dirigent Raphael Pichon gemeinsam mit dem Ensemble Pygmalion und Wiener Bühnenlaien bis 5. April in der Halle E des MuseumsQuartiers zu sehen ist. Entscheidend sei, dass sich die Kunst den elementaren Fragen stelle, aber nicht wie viele Religionen vorgebe, Antworten zu wissen.

Castellucci über Mozart, den Krieg und den Zusammenhalt

„In Zeiten des Krieges stellen sich für uns alle dringlichere Fragen, auch für die Kunst.“ Das sagt Regisseur Romeo Castellucci, der gerade in Wien im Rahmen eines vorgezogenen Festwochen-Events seine Version von Mozarts „Requiem“ zeigt.

Aber, so sagt Castellucci im Gespräch mit ORF.at vor seiner Wiener Inszenierung: „Ich glaube, dass Mozarts ‚Requiem‘ ein Stück ist, das unserem Bedürfnis nach Trost entgegenkommt. Aber es geht auch um das Bedürfnis nach Liebe, und das ‚Requiem‘ ist ein unglaubliches Stück über die Liebe.“

„Dieser Krieg ändert wie alle Kriege unseren Standpunkt, wie wir Dinge sehen, was wir für wichtig halten. Wir lesen die Welt von einer Dringlichkeit, und auch die Kunst bekommt dabei eine neue Dringlichkeit.“ Castellucci und Pichon „framen“ Mozarts unvollendete Totenmesse neu. Dieses Requiem beginnt und endet leise in der Sprache des Chorals ohne Orchester. Entscheidend wird am Ende das Schweigen, die Stille sein – und in der Mitte ein Baby, das seinen Platz in den Wastelands der Welt sucht. Castellucci und seinem Team ist es nicht um irgendeine Art von Zeigefinger bestellt. Wie immer nimmt er die ganze Ikonografie des Abendlandes zur Hand und zieht sie hinauf bis in die Gegenwart.

Die Enzyklopädie des verschwundenen Lebens

Als Enzyklopedie verschwundenen Lebens liest er dieses Stück auch als große Parabel auf die Welt, die nach seiner Vorstellung auch in den dunkelsten Momenten nicht untergehen wird. Der Mensch ist darin ein Kämpfender. Aber er tut es nicht allein. „Es geht hier nicht um ein solipsistisches Gefühl, um den Einzelnen. Wesentlich ist der Chor. Und der Chor ist letztlich ein anderer Begriff für Gesellschaft. Er repräsentiert das Spiel, in dem wir sind. Er ist der Ort des Bewusstseins, ihm stellen sich die elementaren Fragen, die wir nicht lösen können. Aber wir sind immer zusammen. Wir sind in einer Gesellschaft“, so der Regisseur.

Fotostrecke mit 3 Bildern

Tanzszene aus dem Requiem
Pascal Victor/Festival Aix/Festwochen
Enzyklopädie der verschwundenen Kulturorte – und ein Requiem als Fest des Lebens
Frau liegt gekreuzigt am Boden, Mann kalkt sie
ORF
„Mozart ist für mich zutiefst christlich geprägt“, sagt Castellucci
Frau vor Auto in Todespose
Pascal Victor/Festival Aix/Festwochen
Das moderne Sterben in alter Ikonografie

In diesem Sinn liest Castellucci dieses Requiem als Fest des Lebens, als Rück- und Vorblick auf Leben, das war und wieder entstehen wird. Eindringlich sind die Bilder, die zwischen dem Bühnenchor, dem Orchester, den Tanzszenen und dem ganzen Repetoir an ‚Castellucci-Code‘ hier an einem Abend geliefert werden. Die Welt ist bei ihm Teil einer großen Materialschlacht. Auf dem Hintergrund der Bühne erscheinen die Begriffe eines Archivs des Untergangs. Das Theater von Donezk ist hier ebenso Teil einer verschwundenen Welt wie alte Tier- und Pflanzengattungen.

Die Kunst als Erfahrungsschatz

Mozart lässt Castellucci groß und noch größer denken. Und mit diesem Werk kehrt Castellucci an die Wurzeln seines Theaters zurück, das alle Grenzen niederreißt – und direkt an Auge, Hirn und Herz geht. Da mag manches an Hermann Nitsch erinnern, manches an Maurizio Cattelan. Für Castellucci ist alles, was in der Kunst gedacht und formuliert wurde ein Katalog an Erfahrungen, der helfen soll, das Leben zu begreifen. Oder zentrale, schwierige Fragen in Bilder zu überführen, die uns trösten und ebenso an die Grenzen des Aushaltbaren führen. Je älter Castellucci wird, desto mehr spürt man die katholische Tradition seines Landes. Er liest sie aber als Ritual einer Tröstung, an der wir uns mitunter anhalten wollen wie ein kleines Kind.

Hinweis

Das „Requiem“ ist noch bis zum 5. April in Wien in der Halle E zu sehen.

Haltet euch auch ohne Religion, aber in der großen Überlieferung der Kunst aneinander, sagt dieses „Requiem“. Wir werden keinen Lösungen finden, aber alle stehen zusammen. „Wir wandeln immer auf diesem Abgrund vor dem Jenseits, und wenn Kunst eine Funktion hat, dann die, dass sie uns auf diesem Weg und vor diesem Abgrund einen Sinn schenkt“, sagt Castellucci. Mozart habe verstanden, dass eigentlich der Tod das Leben mit Bedeutung auflade.

Von allen Arbeiten, die Castellucci bisher in Wien gezeigt hat, auch seinen scheinbar bilderstürmerischen zu Beginn, ist dieses „Requiem“ seine bisher vielleicht größte.