Eine Frau in der völlig verwüsteten Stadt Butscha
Reuters
Grauen von Butscha

Ruf nach Aufklärung russischer Verbrechen

Die grauenvollen Zustände, die sich nach dem Abzug russischer Truppen aus der Region Kiew – insbesondere in Butscha – zeigen, sorgen im Westen für Empörung und für Rufe nach neuen Sanktionen. Deutschland, Frankreich und andere Staaten forderten die Aufklärung der „Verbrechen des russischen Militärs“. Auch UNO-Chef Antonio Guterres sprach sich für eine unabhängige Untersuchung aus. Die NGO Human Rights Watch hat eigenen Angaben zufolge mehrere russische „Kriegsverbrechen“ dokumentiert. Moskau wies die schweren Vorwürfe zurück. Laut Kiew laufen Untersuchungen wegen Kriegsverbrechen bei der Tötung von mehr als 400 Menschen.

UNO-Generalsekretär Guterres reagierte „zutiefst schockiert“ auf die „Bilder von getöteten Zivilisten in Butscha“ und forderte eine „unabhängige Untersuchung“. Es sei „unerlässlich“, dass die Verantwortlichen nach einer „unabhängigen Untersuchung zur Rechenschaft“ gezogen würden, erklärte Guterres nach Angaben seines Sprechers. Das UNO-Menschenrechtsbüro in Genf teilte mit, es könne sich noch nicht zu den Ursachen und Umständen äußern. Was bisher bekannt ist, werfe aber „beunruhigende Fragen über mögliche Kriegsverbrechen“ auf.

Nach den Berichten über und den Aufnahmen von zahlreichen Leichen sowie Massengräbern im ukrainischen Ort Butscha fordert der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) eine Aufklärung von „Verbrechen des russischen Militärs“. Diese Verbrechen müssten „schonungslos“ aufgeklärt werden, so Scholz am Sonntag in Berlin. Internationale Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz müssten Zugang zu diesen Gebieten erhalten, und die Täter und ihre Auftraggeber müssten „konsequent zur Rechenschaft gezogen werden“.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sprach von „unerträglichen Bildern“ aus Butscha. „Putins hemmungslose Gewalt löscht unschuldige Familien aus und kennt keine Grenzen.“ Als Konsequenz kündigte sie weitere Sanktionen gegen Moskau und zusätzliche Unterstützung für die Ukraine „bei ihrer Verteidigung“ an. Unklar war zunächst, ob damit zusätzliche Waffenlieferungen gemeint waren.

Blinken: „Schlag in die Magengrube“

US-Außenminister Antony Blinken betonte: „Man kann nicht anders, als diese Bilder als einen Schlag in die Magengrube zu sehen“, so Blinken gegenüber CNN. Die USA seien schon vor Wochen zum Schluss gekommen, dass Russland Kriegsverbrechen begehe. „Das ist die Realität, die sich jeden Tag abspielt, solange Russlands Brutalität gegen die Ukraine anhält. Deshalb muss es ein Ende haben.“

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warf Russland schwere Kriegsverbrechen vor. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will die russischen Behörden „für diese Verbrechen“ zur Verantwortung ziehen. Die Bilder aus Butscha mit „Hunderten feige ermordeter Zivilisten auf den Straßen“ seien unerträglich.

EU fordert Untersuchung von „Gräueltaten“

Die EU will nach Angaben von Ratspräsident Charles Michel die Untersuchung von „Gräueltaten“ der russischen Armee in Vororten von Kiew unterstützen. Michel zeigte sich am Sonntag „erschüttert“ über Bilder aus dem ukrainischen Ort Butscha und sprach von einem „Massaker“. Auch Kommissionschefin Ursula von der Leyen zeigte sich entsetzt.

Die britische Außenministerin Liza Truss hatte bereits Stunden zuvor Russland für die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung mit scharfen Worten verurteilt. Zivilisten anzugreifen, sei „abscheulich“.

HRW: Mehrere Kriegsverbrechen dokumentiert

Die US-amerikanische Menschenrechts-NGO Human Rights Watch (HRW) veröffentlichte am Sonntag eine Zusammenfassung von Belegen für Kriegsverbrechen. Man habe „mehrere Fälle, in denen russische Truppen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten in den Regionen Tschernihiw, Charkiw und Kiew dokumentiert“. Dabei gehe es unter anderem um wiederholte Vergewaltigung, zwei Fälle standrechtlicher Hinrichtung – in einem Fall sechs Männer, in einem anderen ein Mann. Auch Fälle von Plünderungen dokumentierte HRW nach eigenen Angaben bereits. Es seien zehn Personen – Zeugen, Opfer und lokale Bewohner – persönlich oder am Telefon befragt worden.

Kuleba fordert härtere Sanktionen

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba forderte als Reaktion härtere Sanktionen der G-7-Staaten gegen Russland. „Das Massaker von Butscha war vorsätzlich. Die Russen zielen darauf ab, so viele Ukrainer wie möglich auszulöschen“, so Kuleba auf Twitter.

Kiews Bürgermeister Witali Klitschko warf russischen Truppen vor, in Butscha Kriegsverbrechen begangen zu haben. „Das, was in Butscha und anderen Vororten von Kiew passiert ist, kann man nur als Völkermord bezeichnen“, so Klitschko gegenüber der „Bild“-Zeitung.

Ukraine: Hinweise auf Kriegsverbrechen

Fünf Wochen nach Beginn der russischen Angriffe habe man die gesamte Region Kiew wieder unter Kontrolle, heißt es von der ukrainischen Regierung. Nun wird auch sichtbar, was in Vororten wie Butscha mit den Zivilisten passiert ist – nach dem Abzug der russischen Truppen finden ukrainische Soldaten erschossene Menschen auf den Straßen.

„Hölle des 21. Jahrhunderts“

Der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak schrieb auf Twitter, das sei die „Hölle des 21. Jahrhunderts“. Auch er sprach von „Leichen von Männern und Frauen, die mit gebundenen Händen ermordet wurden. Die schlimmsten Verbrechen des Nationalsozialismus sind nach Europa zurückgekehrt“. Die Taten seien absichtlich von Russland so begangen worden.

Im Tweet sind mehrere Fotos zu sehen, deren Echtheit bisher nicht unabhängig überprüft werden konnte. Eines zeigt eine männliche nackte Leiche in einem Kanal. Ein anderes zeigt Leichen, die teils aus einem offensichtlichen Massengrab hervorragen, ein anderes auf einer Straße verstreut liegende Leichen. Auf einem weiteren Foto sind erschossene Männer zu sehen, bei einem von ihnen sind die Hände auf dem Rücken gefesselt.

Viele von ihnen seien von russischen Soldaten erschossen worden, so Podoljak. „Sie waren nicht beim Militär, sie hatten keine Waffen, sie stellten keine Bedrohung dar“, schrieb er. „Wie viele derartige Fälle ereignen sich gerade in den besetzten Gebieten?“

Russisches Dementi

Das russische Verteidigungsministerium dementierte einem Agenturbericht zufolge einen Massenmord an Zivilisten in Butscha. Jegliches von der Ukraine veröffentlichte Bild- und Filmmaterial in diesem Zusammenhang stelle eine Provokation dar, berichtete die Agentur RIA unter Berufung auf das Ministerium.

Behörden: 410 Leichen bei Kiew entdeckt

Laut der ukrainische Generalstaatsanwaltschaft, die mögliche russische Kriegsverbrechen untersucht, ist das Ausmaß der Verbrechen rund um Kiew noch deutlich größer als bisher bekannt. Demnach wurden bis dato 410 Leichen in den Vororten Kiews gefunden. 140 von ihnen seien bisher untersucht worden, sagte die Generalstaatsanwältin Irina Wenediktowa im ukrainischen Fernsehen.

Bilder des Grauens

Die ukrainische Armee eroberte nach eigenen Angaben bis Samstagabend mehr als 30 Städte und Dörfer rund um Kiew zurück, von denen großteils zuvor die russische Armee abgezogen war. Mit dem russischen Rückzug werden aber die Verheerungen sichtbar: Leichen von zahlreichen Zivilisten, teils offensichtlich hingerichtet, lagen etwa in Butscha, aber auch in anderen Orten auf offener Straße, Verwesungsgeruch hing über dem Ort.

Journalisten der Nachrichtenagenturen Reuters und AFP, die sich im Gefolge der ukrainischen Armee befinden, haben in Butscha, das neben Irpin und etwa 37 Kilometer nordwestlich von Kiew liegt, Leichen in den Straßen gesehen. Außerdem sahen sie ein noch offenes Massengrab auf einem Friedhof, aus dem die Hände und Füße vieler toter Menschen herausragten.

Russland soll Beisetzung nicht erlaubt haben

Die Behörden beerdigten rund 280 Zivilistinnen und Zivilisten in Butscha in mehreren Massengräbern. Die Leichen konnten während der russischen Besatzungszeit nicht beigesetzt werden, verlautete nach Angaben der „Ukrajinksa Prawda“ aus der Verwaltung. Zuvor hatte es auch geheißen, es gebe nicht genügend Platz auf dem Friedhof.

Drei der Getöteten wurden offenbar erschossen, als sie mit ihren Fahrrädern flüchten wollten. Zu den auf der Straße liegenden Leichen sagte Butschas Bürgermeister Anatoly Fedoruk gegenüber AFP-Reportern, sie seien „alle erschossen“ worden. „Das sind die Folgen einer russischen Besatzung.“

Angeblich bei Fluchtversuch erschossen

Die britische Tageszeitung „Guardian“ sprach mit der 55-jährigen Überlebenden Halyn Towkatsch. Sie suchte am Samstag die Leiche ihres 62-jährigen Mannes Oleg. Er wurde demnach von russischen Soldaten ebenso erschossen wie zwei Nachbarsburschen und deren Mutter, als sie am 5. März versuchten, aus der Stadt zu flüchten. „Es ist ein Kriegsverbrechen“, klagte Towkatschs Sohn Russland an.

Soldaten in Bucha
Reuters/Zohra Benemra
Ukrainische Soldaten finden einen völlig devastierten Ort vor

Völlige Zerstörung

Generell zeigen Fotos aus den Orten, aus denen sich die russischen Soldaten zurückgezogen haben, ein Bild der völligen Zerstörung, mit Teilen von zerstörten russischen Panzern und Militärfahrzeugen zwischen Leichen und völlig kaputten Häusern.

Laut AFP wurde der Leichnam des vermissten ukrainischen Fotografen Maxim Lewin in einem Dorf nahe Butscha gefunden. In den sozialen Netzwerken kursieren Berichte, wonach russische Truppen die Leichen vermint haben. Ukrainische Soldaten schleppten daher laut „Guardian“ die Leichen teils mit Seilen von der Straße.

„Guardian“: Kinder als „menschliche Schilde“

Der „Guardian“ berichtete zudem von Vorwürfen der ukrainischen Seite, russische Truppen hätten Kinder als „menschliche Schutzschilde“ eingesetzt – und sie beim Abzug von Butscha etwa auf den Panzer gesetzt. Die Behauptungen können nicht unabhängig überprüft werden. Die ukrainische Staatsanwaltschaft sammelt demnach Material zu diesen oder ähnlichen Vorwürfen. So sollen die russischen Soldaten bei Nowyj Bykiw, nahe Tschernihiw, Kinderwägen vor den Panzern platziert haben. Außerdem sollen von ihnen Kinder an mehreren Kriegsschauplätzen als Geiseln genommen worden sein, so die ukrainische Ombudsfrau Lyudmila Denisowa.