Ein Soldat fotografiert Zerstörung in Butscha
Reuters/Zohra Bensemra
Ukraine

Dokumentation von Gräueltaten

Massengräber und Leichen in den Straßen: Die Bilder lebloser Körper in der ukrainischen Stadt Butscha sorgen für Entsetzen. Kiew wirft Russland schwere Kriegsverbrechen vor, Moskau streitet die Schuld für den Tod der Zivilisten und Zivilistinnen vehement ab – umso wichtiger ist die Dokumentation von Gräueltaten.

Seit Kriegsbeginn zirkulieren in sozialen Netzwerken Fotos und Videos, die die Lage in der Ukraine abbilden. Meist stammen die Aufnahmen von der Zivilbevölkerung. Aber auch internationale Medien, die noch aus der Ukraine berichten, hatten zuletzt vermehrt Bilder von den Gräueln der vergangenen Wochen veröffentlicht – zum Beispiel von den Leichen in den Straßen Butschas. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch dokumentierte „offenkundige Kriegsverbrechen“ russischer Truppen und belegte sie mit Aussagen von Überlebenden.

Alles, was bisher produziert wurde, und alles, was noch produziert wird – von Fotos und Videos bis zu verschriftlichte Erzählungen von Zeugen und Zeuginnen –, könnte für nationale und internationale Ermittlungen wegen vermuteter Gräueltaten herangezogen werden.

„Es gibt aktuell eine große Fülle an Informationen und Daten, mit der man die Lage in der Ukraine bewerten kann“, sagt Völkerrechtler Wolfgang Benedek im ORF.at-Gespräch. „Jedes Foto, jedes Video und jede aufgenommene Zeugenaussage sind für uns wichtig. Denn wenn man am Ende alles kombiniert, kann man durchaus zu klareren Schlüssen kommen.“

Bericht könnte bald vorliegen

Seit Ende März untersucht Benedek für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mögliche Verletzungen gegen die Menschenrechte in der Ukraine. Für die Aufgabe im Rahmen des „Moskauer Mechanismus“ sei man aktiv auf Organisationen, die Daten über den Krieg sammeln, zugegangen. Die Informationen in Form von Satellitenbildern, Foto- und Videomaterial sowie Zeugenaussagen seien bereits ausgewertet, Ende dieser Woche könnte der Bericht vorliegen, sagt Benedek, der sich zum Inhalt nicht äußern will.

Satellitenbild von Butscha
Reuters/Maxar Technologies
Massengrab und Leichen auf der Straße: In Butscha haben sich offenbar Gräueltaten abgespielt

Der Völkerrechtsexperte hatte bereits 2018 die Menschenrechtslage in Tschetschenien und 2020 jene in Belarus untersucht. „Der Krieg in der Ukraine ist anders gelagert“, so Benedek. „Die Ukraine hat bei der OSZE-Berichterstattung kooperiert, Moskau wurde eingeladen, aber eine Unterstützung abgelehnt.“ Russische Quellen, die übermittelt wurden oder auf die man gestoßen ist, seien allerdings für den Endbericht ausgewertet worden, sagt er. „Entscheidend ist in solchen Fällen, dass alles dokumentiert wird und Beweise gesammelt werden.“

Insbesondere der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist auf die Unterstützung nationaler Behörden und der dortigen Zivilbevölkerung angewiesen. Sie könnten etwa Fotos und Videos machen und an den IStGH übermitteln, sagt Michael Lysander Fremuth, Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Grund- und Menschenrechte. „Der Gerichtshof hat die Aufgabe, die Beweise einzuschätzen. Eine wachsende Rolle spielen Handyvideos, aber gleichzeitig sind sie auch wegen der Manipulierbarkeit problematisch“, so der Experte gegenüber ORF.at.

Frage des Möglichen

Klassiker seien Zeugenvernehmungen und Einsätze in Kriegsgebieten. Der IStGH könnte beispielsweise forensische Fachleute nach Butscha schicken, um die Todesursache der toten Zivilisten und Zivilistinnen zu klären, sagt Fremuth. Man könnte auch feststellen, mit welchen Waffen und mit welcher Munition die Personen getötet wurden. Die Frage, so der Experte, sei aber, ob Ermittler und Ermittlerinnen einreisen können oder man sich auf nationale Behörden verlässt.

Im Zuge des OSZE-Berichts sei ein Augenschein in der Ukraine wegen der militärischen Auseinandersetzung jedenfalls gar nicht möglich gewesen, so Völkerrechtler Benedek. „Wäre zwischen den Parteien eine Waffenruhe oder eine Feuerpause vereinbart worden, hätte man selbst Zeuginnen und Zeugen in der Ukraine anhören können“, sagt er. Videos und Analysen von Satellitenaufnahmen seien in solchen Fällen zwar hilfreich, für weitere Ermittlungen, etwa jene des IStGH, müssten aber Beweise an Ort und Stelle gesammelt werden.

Beweise aus Zivilgesellschaft wichtig

Gegenüber dem „profil“ erwähnte der renommierte Menschenrechtsexperte Manfred Nowak den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ). Dieser habe beim Einsatz forensischer Experten und Expertinnen „Pionierarbeit“ geleistet. Ähnlich äußert sich auch Frank Höpfel im Gespräch mit ORF.at. Der Strafrechtsprofessor war von 2005 bis 2008 als Ad-litem-Richter am Strafgerichtshof tätig und unterstützte in einzelnen Prozessen das ständige Richtergremium.

 Internationalen Strafgerichtshof für Ex-Jugoslawien, 1998
AP/Jerry Lampen
Von 1993 bis 2017 war der IStGHJ für schwere Verbrechen zuständig, die seit 1991 in den Jugoslawien-Kriegen begangen wurden

Durch eine „engagierte Zivilgesellschaft“ könnten wichtige Schritte bereits vorab getätigt werden, sagt der gebürtige Tiroler, der an der Uni Wien lehrte, im Gespräch mit ORF.at. Allerdings müssten alle übermittelten Fotos, Videos und Zeugenaussagen durch Fachleute „sorgfältig gesichtet und bewertet werden“. Im Jugoslawien-Verfahren habe es zig Beweisstücke gegeben, mit denen einzelne Tathergänge beschrieben werden konnten.

Neben Dokumenten und Bilder sind für Höpfel Zeugenaussagen von besonderer Bedeutung. „Es ist wichtig, dass man Leute findet, die ihre Geschichte erzählen, die sagen, was wann wie stattgefunden hat“, so der langjährige Jurist. Dafür könnten unabhängige Ermittlergruppen der IStGH-Anklagebehörde eingesetzt werden, die sich auf die Suche nach Zeugen und Zeuginnen machen. Später können diese dann auch „geschützt“ in Den Haag auftreten und ihre Erlebnisse schildern. Das alles diene der Wahrheitsfindung, so Höpfel.

„Mühlen der Gerechtigkeit“

Wenn sich herausstellen sollte, dass in der Ukraine Kriegsverbrechen begangen wurden, rückt eine andere Frage in den Vordergrund: Wer ist dafür überhaupt verantwortlich? Für OSZE-Beobachter Benedek ist die Verantwortung für Kriegsverbrechen schwieriger nachzuweisen als die Tat selbst. Im Fall des Falles werde diese Frage von nationalen und internationalen Gerichten geklärt werden müssen.

Völkerrechtler Fremuth betont allerdings, dass die Verantwortung nicht nur jene Soldaten betreffe, die das Feuer auf unschuldige Zivilisten und Zivilistinnen eröffnet haben. Auch Vorgesetzte könnten für Völkerrechtsverletzungen der Untergebenen verantwortlich gemacht werden. Mit der Rechtsfigur der Vorgesetztenverantwortlichkeit werde versucht, gerade jene zu fassen, die selbst nicht Hand angelegt haben, aufgrund der Kommandostruktur von der Tat aber wussten und diese nicht verhindert haben, sagt Fremuth.

Entsetzen über Gräueltaten von Butscha

Die bekanntgewordenen Gräueltaten in Butscha haben international für Entsetzen gesorgt. Laut Bürgermeister Anatoli Fedoruk hätten die Russen auf alles geschossen, was sich bewegt hat: „Passanten, Leute auf Fahrrädern, Autos mit der Aufschrift ‚Kinder‘. Butscha ist die Rache der Russen für den ukrainischen Widerstand.“

Im Fall des Massakers im ukrainischen Butscha müsste die Befehlskette nachgewiesen werden. Auch wenn Russlands Präsident Wladimir Putin Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte ist, braucht es für weitere Schritte Beweise, dass er davon wusste. Für die frühere Chefanklägerin des IStGH, Carla Del Ponte, ist er bereits ein „Kriegsverbrecher“, wie sie am Wochenende sagte. Angriffe gegen Zivilisten und Zivilistinnen, die Zerstörung von Privatgebäuden und ganzen Städten seien „alles Kriegsverbrechen“, und man müsse die Befehlskette hinauf ermitteln.

Das wird allerdings noch dauern, meint Strafrechtsprofessor Höpfel. Die Sichtung und Bewertung von Beweisen ist ein Prozess, der nicht von einem auf dem nächsten Tag abgeschlossen ist. Zwar nütze das breite Interesse an einer lückenlosen Aufklärung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine dem Internationalen Strafgerichtshof. Doch, so Höpfel, die „Mühlen der Gerechtigkeit mahlen stetig, aber für gewöhnlich langsam“.