Alfred Kubin: Der Mensch
Leopold Museum/Eberhard Spangenberg
Alfred-Kubin-Schau

In männliche Abgründe blicken

Als „Bekenntnisse einer gequälten Seele“ präsentiert das Leopold Museum das Werk von Alfred Kubin (1877–1959). Monster und Zwitterwesen beherrschen die alptraumhaften Szenarien, die der österreichische Grafiker nach einer schweren Kindheit zeichnete. Sexualität und Weiblichkeit werden darin zur Gefahr. Mit seinen Bildern von Krieg und Krankheit wirkt der Künstler hingegen zeitgemäß. Die Schau bringt Kubin mit Werken seiner kunsthistorischen Vorbilder zusammen.

Es ist fast unmöglich, gewisse Zeichnungen von Alfred Kubin nicht auf unsere gegenwärtigen Krisen zu beziehen. So etwa, wenn der Künstler den „Krieg“ als nackten Riesen mit Helm, Schild und Streitaxt darstellt. Anstelle von Füßen besitzt der Gigant gewaltige Pferdehufe, die ihm noch mehr Fläche und Power für das Zertreten der anrückenden Armee bieten. Nicht nur die stampfende Körperhaltung, sondern auch das Helldunkel der Federstriche im Hintergrund verleihen der Figur ihre Wucht. Erscheint der Kampf der Ukraine gegen Putin nicht auch wie der Kampf von David gegen Goliath?

Hochaktuell auch Kubins Blatt „Epidemie“ von 1900: In einer nächtlichen Winterlandschaft steht ein gigantisches Skelett. Der Knochenmann beugt sich über ein Gehöft und schüttet einen Sack mit Unheil über Mensch und Tier aus. Es ist beeindruckend, wie Kubin Spritztechnik für die schwarzen Keime einsetzt, die über die Häuser rieseln. Die Nuancen der verschneiten Hügel kreiert er durch das Verwischen der Tusche. Noch vor dem Coronavirus erzielte eine Version von „Epidemie“ bei einer Londoner Auktion 2019 den Rekordpreis von über einer Million Euro.

Alfred Kubin: Epidemie
Leopold Museum/Eberhard Spangenberg
Alfred Kubins „Epidemie“ – spät passen seine grafischen Arbeiten wieder zur Zeit

Traumata als Schatten

„Kubins Bilder sind Momentaufnahmen aus der Dunkelkammer seines Unbewussten“, sagt Hans-Peter Wipplinger beim Ausstellungsrundgang. Eine Schau über den Künstler war dem Direktor des Leopold Museums eine Herzensangelegenheit. Wipplinger stammt selbst aus der oberösterreichischen Ortschaft Wernstein am Inn, wo Kubin bis zu seinem Tod 1959 zurückgezogen lebte. „Ich war oft mit meinem Großvater in Schloss Zwickledt, das man damals noch ohne Eintritt besuchen konnte. In der Bibliothek haben wir sogar in den Büchern mit den Bleistiftnotizen des Künstlers geblättert“, erinnert sich der Museumsleiter.

Alfred Kubin im Leopold Museum

Alfred Kubin gilt als österreichischer Malerstar des Düsteren und Hintergründigen. Die Zeichnungen, Grafiken und Buchillustrationen des 1959 verstorbenen Künstlers thematisieren aktuelle Themen wie Krieg, Pandemie, die Umweltzerstörung und die Genderdiskussion.

Für den Ausstellungskatalog hat Wipplinger den Psychoanalytiker August Ruhs um einen Beitrag gebeten. Schließlich litt der als Kind traumatisierte und später von Schicksalsschlägen gebeutelte Künstler zeitlebens unter Ängsten und wollte sich auch umbringen. Kubin war erst zehn Jahre alt, als seine Mutter starb und ihn mit einem gewalttätigen Vater zurückließ. Wenig später erschütterten den Jungen sexuelle Erfahrungen mit einer Schwangeren. Als Kubin mit 26 Jahren heiraten wollte, raffte der Typhus seine Verlobte hinweg. Hinzu kamen berufliche Rückschläge wie eine gescheiterte Fotografenlehre, ein abgebrochenes Kunststudium und der freiwillige Eintritt in die Armee, der in einer Nervenheilanstalt endete.

Emmy Haesele: Alfred Kubin am Schreibtisch sitzend
Leopold Museum/Nachlass Emmy Haesele
Alfred Kubin an seinem Schreibtisch

Alpträume eines Dandys

Die thematisch konzipierte Schau setzt mit „Traumwelten“ ein, die Kubins Nachtgespenster in Verbindung zu Schreckensgestalten von Francisco de Goya oder James Ensor setzen. In Tuschezeichnungen wie Kubins „Alptraum“ wird auch der Einfluss der grotesken Mensch-Tier-Zwitter von Hieronymus Bosch deutlich. Die Komposition der „Zigeunerlandschaft“, in deren Vordergrund eine gekreuzigte nackte Frau liegt, erinnert hingegen an Pieter Bruegel. Viele von Kubins stärksten Arbeiten entstanden während seiner Jahre um 1900 in München. „Er lebte damals als Dandy, ging oft in Varietes und experimentierte auch mit Drogen“, erzählt Wipplinger zu dieser Phase, die mit dem Tod seiner ersten Liebe 1903 ein jähes Ende fand.

Die letzte Kubin-Schau im Leopold Museum ist bereits 20 Jahre her. Rudolf Leopold gestaltete die Schau 2002 persönlich aus dem großen Fundus an 350 Blättern, den er im Laufe seiner Sammlerkarriere zusammengetragen hat. Im Jahr 2008 präsentierte die Neue Galerie in New York die erste Ausstellung des Künstlers in Amerika. Ein Artikel über die Schau in der „Financial Times“ titelte damals „The morbid misogynist“, also „Der morbide Frauenhasser“. Der Künstler wäre zwar ein Kind seiner Zeit gewesen, so die Conclusio, wäre aber gerne in die Gasse von frauenverachtenden Literaten wie Otto Weininger eingeschwenkt.

Alfred Kubin: Unser aller Mutter Erde
Leopold Museum/Eberhard Spangenberg
Assoziationswelt eines „morbiden Frauenhassers“

Frau als Untergang

In dem Ausstellungsabschnitt „Mythos und Allegorie: Frauenbilder der Decadence“ werden Kubins Zeichnungen in ein Umfeld symbolistischer Künstler wie Max Klinger und Edvard Munch eingebettet. Verhängnisvolle Verführerinnen wie Salome und Judith und feminine Monster wie die Sphinx bevölkern diesen Saal. Franz von Stucks düstere „Sinnlichkeit“ reckt dem Betrachter den Busen entgegen, während sich eine Riesenschlange um ihren Körper windet, und Munchs männersaugender „Vampir“ trägt lange rote Haare. Kubin breitet seine Frauenfigur „Spinne“ mit gespreizten Beinen aus, während in ihrem Netz Paare kopulieren und im Hintergrund ein fliegender Penis eine geflügelte Vulva verfolgt.

Noch drastischer als jene Frauenbilder, aus denen oft Kastrationsangst strömt, fallen Kubins Darstellungen von Schwangeren aus. Mit überdimensional geschwollenem Leib liegt „Die Fruchtbarkeit“ unter Wasser, während aus dem Schoß dieser Gebärmaschine Neugeborene wie Kaulquappen strömen. In dem Blatt „Unser aller Mutter Erde“ verstreut eine schwangere Riesin eine unheilvolle Saat, während hinter ihr eine Legion von abgeschlagenen Köpfen liegt.

Ein gutes Sujet für einen Horrorfilm gäbe auch „Das Ei“ ab: Ein Frauenskelett mit einem ovalen Riesenbauch steht neben einem Schacht, wie für einen Sarg. Gemäß den Schriften des Anthropologen Johann Jakob Bachofen fungiert die Frau als Lebensspenderin, die mit der Geburt auch schon wieder die Grundlage für den Tod liefert. Bei Kubin führte Bachofens Theorie in Kombination mit dem sexuellen Missbrauch, den er als Kind erlebte, zu abstoßenden Frauenbildern.

Alfred Kubin: Ins Unbekannte
Leopold Museum
Kubin und die stets lauernden Ängste hinter der Menschheit

Schrecken des Krieges

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg bildeten Militär und Schlachten einen fixen Topos in Kubins Oeuvre. Die Katastrophen, die der Menschheit im 20. Jahrhundert bevorstanden, nahm der von dem pessimistischen Philosophen Arthur Schopenhauer geprägte Künstler lange vorweg. Dafür griff er auch auf makabre Motive wie den mittelalterlichen Totentanz zurück. Die düstere Sicht auf das Schicksal der Menschheit äußerte sich in Darstellungen passiver Massen, die wie Lämmer getrieben werden. Zum Beispiel in einen riesigen Schlund mit Fangzähnen, auf den die Kolonne des Bildes „Ins Ungewisse“ zuströmt. Oder handelt es sich doch um eine „Vagina dentata“, Sigmund Freuds Schreckbild einer beißenden Vagina?

Auf Schienen rasen wir unserem unausweichlichen Schicksal entgegen. So versinnbildlichte es der Künstler in seiner großartigen Grafik „Der Mensch“. Bei allem Zwiespalt, den Kubins Fantasien hervorrufen, versöhnen Blätter wie dieses. Bisweilen reizen sein Hang zur Übertreibung und die abstrusen (Körper-)Fantasien auch zum Lachen. Oder sie lassen an Gruselfiguren aus zeitgenössischen Animationsfilmen wie von Tim Burton denken.

Was die Frauenfeindlichkeit angeht, so lässt die Schau – die ausschließlich Werke von Männern zeigt – Kubin recht ungeschoren davonkommen. Die Vermischung seiner Misogynie mit der seiner Vorläufer wirkt immunisierend. Aber zumindest führt die Retrospektive auf diese Weise vor, dass Kubin kein „Einzeltäter“ war. Die „Projektionen männlicher Allmacht“, wie ein Ausstellungskapitel heißt, führen die Menschheit auch heute noch ins Verderben.