Ein geflüchteter ukrainischer Mann in Ungarn in eine Decke gehüllt
Reuters/Bernadett Szabo
Scham und Vorwürfe

Zerreißprobe für geflohene Männer

Zehntausende ukrainische Männer haben sich nach dem Angriff Russlands freiwillig zum Dienst an der Waffe gemeldet. Doch es gibt auch andere, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht kämpfen wollen. Den meisten von ihnen ist nach der Generalmobilmachung die Flucht aus dem Land verwehrt. Einige schaffen es dennoch – doch zu ihrem Glück, in Sicherheit zu sein, mischen sich Scham, Gewissensbisse und Anfeindungen.

Es waren immer wieder herzzerreißende Szenen: Männer, die ihre Familien an die Grenze begleiten und Frau und Kinder dort verabschieden. Diese in Sicherheit gebracht kehrten sie selbst zurück – auch um das Land zu verteidigen.

Schon kurz nach dem russischen Angriff verhängte die ukrainische Regierung eine Generalmobilmachung. Männern zwischen 18 und 60 Jahren wurde die Ausreise verboten. Ausnahmen gibt es nur wenige: Nicht Wehrtüchtige dürfen das Land verlassen, ebenso Männer, die finanziell für drei oder mehr Kinder unter 18 Jahren verantwortlich sind. Auch alleinstehende Väter von Kindern unter 18 Jahren sowie Väter von Kindern mit einer Behinderung sind ausgenommen.

Ein ukrainischer Mann verabschiedet sich von Frau und Kind an der polnischen Grenze
Reuters/Yarda Nardi
Abschied an der Grenze: Der Krieg zerriss Hunderttausende Familien

Noch keine Verpflichtung zum Kampf

Eine Verpflichtung zu kämpfen, gibt es nicht, zumindest noch nicht. Die meisten ukrainischen Männer haben eine Art Grundwehrdienst absolviert, die Wehrpflicht bestand mit einer kurzen Pause 2013 durchgehend seit Sowjetzeiten. Ausnahmen gibt es kaum, neben medizinischen Gründen sind nur Mitglieder von einigen kleinen religiösen Gruppen ausgenommen, die sich aber einer Kommission stellen müssen.

In den ersten Kriegstagen meldeten sich Zehntausende Männer freiwillig. Viele sahen und sehen es als patriotische Pflicht an, ihr Land zu verteidigen. Die Stimmung im Land und der Patriotismusschub nach dem Angriff verstärkten die Mobilisierung: Es gab lange Schlangen an den Registrierungsstellen – und kurze Einschulungen. Die Regierung machte all jenen, die nicht mit der Waffe in der Hand kämpfen wollten oder konnten, also Köchen oder Fahrern, auch das Angebot, die Truppen zu unterstützen.

Ukrainische Zivilisten lerlernen den Umgang mit einer Waffe
AP/Felipe Dana
Nur wenige Tage werden Freiwillige an der Waffe geschult

Viele Gründe für eine Entscheidung gegen den Krieg

Doch es gab und gibt auch Männer, die das nicht wollten und wollen. Die sich nicht von ihrer Familie trennen wollen. Die aus Gewissensgründen nicht mit der Waffe dienen wollen. Die mit ungenügender militärischer Ausbildung nicht Kanonenfutter sein wollen. Oder die auch nicht gegen Russen kämpfen wollen, weil sie zwar den Angriff verurteilen, aber auf der anderen Seite Freunden oder gar Familienmitgliedern, die es irgendwann nach Russland verschlagen hatte, gegenüberstehen könnten. So einen Fall schildert etwa ein 50-jähriger Ukrainer der „New York Times“: Seine Geschwister hätten nach Russland geheiratet, seine Neffen seien nun Angreifer in der Ukraine.

Anfeindungen und unterbundene Flucht

Die Zeitung erzählt aber auch die Geschichte eines jungen Modefotografen, der es geschafft hatte, nach London zu fliehen. „Gewalt ist nicht meine Waffe“, zitiert ihn die „NYT“. Doch Freunde oder zumindest Menschen, die er dafür hielt, enthüllten seine Identität und skandalisierten seine Flucht in den sozialen Netzwerken. Für sein „unpatriotisches“ Verhalten erhielt er Morddrohungen.

Wie viele Männer das Land verlassen haben, obwohl sie es nicht durften, ist unklar. Der ukrainische Grenzschutz verkündete vor etwas mehr als einer Woche, bisher 2.200 Männer an den Grenzen beim Verlassen des Landes aufgegriffen zu haben. In der Regel werden sie einfach zurückgeschickt, Strafen drohen ihnen offenbar keine.

Die UNO drängte die Ukraine in der Sache „mitfühlend und menschlich“ zu reagieren. Dennoch gibt es aber Berichte von Gewalt und Misshandlungen durch die Grenzposten. Es gab aber auch Berichte von Männern, die bei der Flucht starben, also etwa in Grenzflüssen ertranken. In den Karpaten seien auch mehrere Vorfälle mit Erfrierungen registriert worden, unter anderem an der Grenze zu Rumänien.

Schlepper machen gute Geschäfte

Die Hauptfluchtroute scheint nach Moldawien zu führen, die Grenzen sind dort weniger gut bewacht als in den EU-Ländern, die an die Ukraine grenzen. Und es hat sich für Menschenschmuggler ein Geschäftsmodell aufgetan: Für ein paar tausend Euro werden Männer über die Grenze gebracht. Ähnliche Machenschaften gibt es wohl auch an den EU-Grenzen.

Zuletzt seien sogar bis zu 15.000 Euro bezahlt worden, zitiert die „NYT“ Behördenvertreter aus Moldawien. Mehrere solche Menschenschmugglerringe habe man schon zerschlagen, so die Behörden. Von den rund 1.100 auf moldawischer Seite Aufgegriffenen hätten 90 Prozent um Asyl angesucht – die einzige Möglichkeit, nicht sofort zurückgeschickt zu werden.

„Der starke Mann“

In allen Schilderungen jener, die es geschafft haben zu fliehen, schwingen aber auch Gewissensbisse mit. Von Scham erzählen Männer nicht nur in der „NYT“, auch in der „Washington Post“ und im „profil“ erschienen ähnliche Berichte. Von „Schuld“ ist die Rede – und auch immer von Zwiespalt, es zwar selbst mit der Familie geschafft, aber dennoch das eigene Land im Stich gelassen zu haben. Der Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer stellt im „profil“ die Frage nach den vorherrschenden Männerbildern – und konstatiert die wiederkehrende Dominanz vom Bild des starken, kämpfenden Mannes, an dem sich auch Geflüchtete messen lassen müssen.

Unklar ist freilich auch – und diese Frage stellen sich viele Geflüchtete –, wie ein Zusammenleben nach dem Ende des Krieges aussehen kann und mit welchen Vorwürfen Zurückkehrende womöglich konfrontiert werden. In der aufgeheizten Situation sind teils selbst Männer Anfeindungen ausgesetzt, die entweder unter die Ausnahmeregeln fallen oder schon vor der Ausrufung der Generalmobilmachung das Land verlassen haben. Das Infragestellen der Flucht kommt dabei nicht nur aus der Ukraine: Auch in den Ländern, in denen Flüchtlinge aufgenommen werden, wird oft laut die Frage gestellt, wieso denn Männer nicht „einfach“ ihr Land verteidigen.

Wenig über russische Deserteure bekannt

Wenig bis nichts ist darüber bekannt, wie viele russische Soldaten den Dienst verweigern. In Berichten war immer wieder von Desertionen zu hören. In welchen Ausmaßen sich diese bewegen, wird von Russland freilich nicht kommuniziert. Bekannt wurde nur der Fall von zwei Einheiten aus der von Georgien abtrünnigen und Russland zugewandten Provinz Südossetien, die das Kampfgebiet zu Fuß wieder Richtung Heimat verließen. Vereinzelt ist auch zu lesen, dass Menschenrechtsanwälte in Russland rechtlich Soldaten beistehen, die teils schon in der Heimat den Einsatzbefehl verweigern.