Parlamentarier applaudieren im Nationalrat in einer Sondersitzungzung zu Coronavirus im März 2020
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Nationalrat

Reden ist Silber, Klatschen ist Gold

Das Parlament ist ein Ort, an dem viel gesprochen wird. Im besten Fall wird über das Für und Wider von Gesetzesentwürfen argumentiert. Doch so wichtig wie das gesprochene Wort sind auch die Reaktionen darauf. Ohne Applaus sind die wortreichen Debatten im Hohen Haus kaum vorstellbar – und wie eine Studie zeigt: Manchmal verrät das Klatschen sogar mehr als die Reden selbst.

Laut und lang oder verhalten und kurz, egal wie: Der Beifall begleitet die Politik. Gleichzeitig kann Klatschen selbst zum Politikum werden. US-Präsident Donald Trump hatte 2018 nach seiner ersten Rede an die Nation die Demokraten, die ihm nicht applaudierten, als „verräterisch und unamerikanisch“ bezeichnet. 2015 löste der Beifall schottischer Abgeordneter im britischen Unterhaus eine Debatte über das dort geltende Applausverbot aus. Und bei einer Versammlung 1937 hatten Anhänger aus Furcht vor Diktator Josef Stalin einfach nicht aufgehört zu applaudieren – so heißt es jedenfalls im „Der Archipel Gulag“.

Applaus ist im Normalfall eine Geste der Zustimmung – auch im Parlament entfaltet er seine Wirkung. Nach Reden gilt der Beifall als Selbstverständlichkeit. Von Stenografen und Stenografinnen wird die nonverbale Äußerung penibel festgehalten. In den Protokollen heißt es dann zum Beispiel „Beifall bei den Grünen und bei NEOS“, „Lebhafter Beifall bei den Freiheitlichen“ oder auch „anhaltender Beifall bei ÖVP und SPÖ“. Wesentlich früher wurde noch das „Händeklatschen“ protokolliert.

Hat eine Rede stattgefunden, wenn niemand applaudiert?

„Im Nationalrat ist der Applaus nicht nur ein nonverbales Mittel, um seine Zustimmung auszudrücken“, sagt Politikwissenschaftler Wolfgang C. Müller von der Universität Wien im Gespräch mit ORF.at. Der Beifall könne nämlich auch als Stimmungsmesser innerhalb einer Koalition herangezogen werden. Müller war Teil eines Teams, das sich ausgiebig mit dem gegenseitigen Beklatschen unter Koalitionsparteien von 2003 bis 2018 beschäftigt hat. „Je schlechter die Stimmung in der Koalition ist, desto weniger wird bei Reden des Regierungspartners applaudiert, hingegen deutet mehr Beifall auf eine bessere Atmosphäre hin.“

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Die Auswertung des Beifalls zwischen 2003 und 2018 basiert auf über 30.000 Reden und Zigtausenden Interaktionen, die in den Protokollen des Parlaments festgehalten wurden. In erster Linie zeigt die Analyse, dass sich ÖVP und FPÖ in ihren Regierungsjahren wesentlich öfters beklatschen als es SPÖ und ÖVP je taten. „ÖVP und FPÖ wurden durch externe Faktoren wie EU-Sanktionen zusammengeschweißt, während die Große Koalition aus SPÖ und ÖVP von beiden Seiten seit jeher als ungeliebt wahrgenommen wurde“, sagt Politikwissenschaftler Müller.

Besonders leise war der Beifall zwischen SPÖ und ÖVP in den Jahren nach der sogenannten Flüchtlingskrise 2015. Ihren Tiefpunkt erreichte die ÖVP-SPÖ-Stimmung, nachdem Sebastian Kurz im Mai 2017 den ÖVP-Vorsitz übernahm. Die Volkspartei applaudierte dem Koalitionspartner SPÖ immer weniger, die Sozialdemokraten klatschten nach ÖVP-Reden erst wieder mehr, als der Wahltag näher rückte. Für Experte Müller ist es plausibel, dass Parteien vor einer Wahl der Konkurrenz keinen Erfolg mehr gönnen wollen. „Als Koalition bringt man zwar ein Projekt über die Ziellinie, aber der Applaus für den Partner wird geringer ausfallen.“

Hinweis

Die Studie „Coalition Mood in European Parliamentary Democracies“ von Imre, Ecker, Meyer und Müller wurde 2022 im „British Journal of Political Science“ veröffentlicht.

Beifallsmuster statt Kalmierungen

Schon lange interessiert sich die Forschung für die Stimmung innerhalb von Koalitionen, etwa um die Wahrscheinlichkeit von internen Konflikten bewerten zu können. Da diese aber schwer zu messen sind, seien bisher verschiedene andere Faktoren als Stimmungsersatz herangezogen worden, sagt Politikwissenschaftler Michael Imre. Der Studienautor, der an den Universitäten Mannheim und Heidelberg forscht, meint, dass sich gerade der Applaus als Instrument eignet, die koalitionäre Atmosphäre über einen definierten Zeitraum zu messen.

„Die Stimmung verschlechtert sich zum Beispiel, wenn sich die relative Machtverteilung in der Koalition ändert, also etwa, wenn eine Partei immer bessere Umfragewerte bekommt, während die Umfragewerte für den Koalitionspartner sinken“, sagt Imre im Gespräch mit ORF.at. Öffentlich und in ihren Reden würden Politikerinnen und Politiker versuchen, einen Disput abzuwiegeln, aber die Beifallsmuster könnten mehr über die Gefühlslage innerhalb einer Koalition erzählen.

Plenarsaal mit Besuchergalerie
ORF.at/Christian Öser
Der Redner kann sich sicher sein: Er bekommt Applaus von seinem Klub

Denn wesentlich beim Applaus sei, dass dieser im Gegensatz zu den spontanen Zwischenrufen einzelner Abgeordneter eine kollektive und bewusste Handlung sei. „Den Takt geben oft die Klubobleute vor“, sagt Müller. Wenn der Koalitionspartner nach einer Rede nicht applaudiert, sei das jedenfalls kein Zufall, ergänzt sein Kollege Imre. Beispielsweise würden sich Regierungspartner „revanchieren“, wenn ihre Redner und Rednerinnen Beifall oder eben keinen Beifall von den Abgeordneten des Koalitionspartners erhalten.

Parlament als Theater

Die Facetten des politischen Applauses ist auch an Medien nicht vorübergegangen. Addendum hatte etwa den Beifall im Nationalrat von 2013 bis 2018 untersucht, die „Süddeutsche Zeitung“ jenen im Deutschen Bundestag 2017. Das Ergebnis: In der Regel wird immer mit den und für die Kollegen aus der eigenen Fraktion oder Koalition geklatscht. „Der Beifall im Bundestag hat oft wenig mit einer konkreten Aussage zu tun, sondern signalisiert Zugehörigkeit zu einer Gruppe“, hieß es in der „SZ“. Auch in Österreich gilt diese Formel.

Die Stimmung der jetzigen ÖVP-Grünen-Koalition könnte anhand von Beifallsmustern gemessen werden. Beispielhaft galt die Athmosphäre ab Ende Jänner 2021 als äußerst angespannt. Die damals zwölfjährige Tina wurde mit ihrer Familie nach Georgien abgeschoben. Übten Abgeordnete von SPÖ, NEOS und Grünen in der anschließenden Sitzung des Nationalrats Kritik am Vorgehen, klatschten die Grünen, die ÖVP hingegen nicht. Bei der Debatte zur ökosozialen Steuerreform 2022 war der innerkoalitionäre Beifall wieder lauter.

Plenarsaal im historischen Parlamentsgebäude
ORF.at/Roland Winkler
Ein politischer Saal in Anlehnung an das griechische Theater

Eine Rede ohne Reaktion wäre im Plenarsaal auch kaum vorstellbar. Denn allein die Architektur lädt zum Klatschen ein. Mit dem Rednerpult als Bühne und einem halbkreisförmigen Auditorium ist der Sitzungsaal im historischen Parlament einem griechischen Theater nachempfunden. Im Ausweichquartier in der Hofburg sieht es im Grundkonzept nicht anders aus. Doch wer Applaus ernten will, muss auch etwas bieten können.

In den 80er Jahren konnten britische Forscher zeigen, dass die Chance, Beifall zu erhalten, steigt, wenn auf rhetorische Tricks zurückgegriffen wird. So wurde nach Parteitagsreden von Politikern und Politikerinnen, die einer These mit einer Gegenthese („x sagt, aber y“) widersprachen, besonders lange applaudiert. Vielfach begann das Klatschen sogar vor Beendigung der Antithese, weil das Publikum schon voraussehen konnte, worauf der Redner eigentlich hinauswollte.

„Primetime für Abgeordnete“

Der Stil ist das eine, die Gegebenheiten aber das andere. Der Applaus bzw. die Intensität des Applauses hänge von weiteren Faktoren ab, wie Klubreferenten im ORF.at-Gespräch sagen. Zum einen wäre hier die Tageszeit zu nennen. Die ersten Stunden in einer Nationalratsdebatte gelten als „Primetime für Abgeordnete“. Es werden die „großen Themen“ behandelt, sagte ein Mitarbeiter. Zum anderen dürfe man nicht vergessen, dass Debatten mehrere Stunden dauern können. Und je länger Sitzungen im Hohen Haus dauern, desto leiser wird es.

Neben der psychischen spielt auch die körperliche Anwesenheit eine Rolle. Denn während die Sitzreihen zu Beginn einer Debatte gefüllt sind, somit mehr Händepaare für den Beifall zur Verfügung stehen, lichten sich zu später Stunden die Plätze. Dann wird zwar noch die Tagesordnung abgearbeitet und über Anträge debattiert, der Applaus dafür ist aber nicht mehr so energisch wie am Vormittag. Zum Ende hin, so ein Klubreferent, seien „alle schon eher klatschmüde“.

Ruhe und Ordnung, oder: Räumung

Nicht einmal zu dieser Stunde könnten Besucher und Besucherinnen eine Klatschhilfe leisten. Der Applaus im Parlament ist nämlich seinen Mitgliedern vorbehalten. Gäste haben sich gemäß Hausordnung „jedes Eingreifens in die Verhandlung sowie aller Zeichen der Zustimmung oder des Missfallens zu enthalten“. Auch für Regierungsmitglieder gilt: Bitte nicht einmischen, also nicht klatschen. Sollte es doch zu einem „Applausversehen“ kommen, kann der Präsident bzw. die Präsidentin des Nationalrats oder Bundesrats einschreiten.

Aktion der Österreichischen Hochschülerschaft im Parlament im Dezember 2004
APA/Robert Newald
Unter der ÖVP-FPÖ-Regierung kam es 2004 zu mehreren Aktionen auf der Besuchergalerie

Schon mehrmals wurden Besucher und Besucherinnen auf der Galerie ermahnt. So hatte im Jahr 2004 Nationalratspräsident Andreas Khol (ÖVP) Studierende auf der Besuchergalerie gebeten, „das Verbot des Applauses von dort aus zu beachten“. Wenige Wochen später schritt die Zweite Nationalratspräsidentin Barbara Prammer (SPÖ) ein: „Unterlassen Sie sofort die Aktionen auf der Galerie, sonst unterbreche ich die Sitzung und lasse die Galerie zur Gänze räumen!“

Auch früher schon konnte es auf den Besucherplätzen laut werden. Der erste Nationalratspräsident der Zweiten Republik, Leopold Kunschak (ÖVP), musste 1950 während einer Debatte über die Rückführung von Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion betonen, dass sich die Galerie „in die Verhandlungen des Hauses nicht einzumengen“ habe. Der stenografische Dienst hielt fest: „Eine Frau ruft: Wir verlangen unsere Kriegsgefangenen zurück! Dieser Ruf wird von zahlreichen Frauen auf der Galerie mit lebhaftem Händeklatschen aufgenommen.“