Grafik zeigt Verlauf der Todesfälle durch das Coronavirus
ORF.at
Mehr als 3.000 Nachmeldungen

Verwirrung über „neue“ CoV-Todesfälle

Das Gesundheitsministerium hat am Dienstag 3.412 Coronavirus-Todesfälle „nachgemeldet“ – und damit für einige Verwirrung gesorgt. Die Todesfälle schienen bisher weder in der Morgenmeldung der Ministerien noch in der auf dem Epidemiologischen Meldesystem (EMS) basierenden AGES-Dashboard auf. „Gefunden“ wurden die „neuen“ Todesfälle in der Todesursachenstatistik der Statistik Austria. Die Todesfälle verteilen sich über den gesamten Pandemieverlauf bis Ende 2021.

Die „neuen“ Todesfälle wurden zunächst am Mittwoch in die Daten der AGES – und damit in die ORF.at-Grafiken – implementiert. Statt der angekündigten 3.412 sind es aber 3.075 Todesfälle, die alle vor 2022 datiert sind. Mit der Nachmeldung steigen die Todesfälle im Zusammenhang mit der Pandemie um gut 20 Prozent.

In der Morgenmeldung des Krisenstabs wurden am Donnerstag dann 587 Todesfälle hinzugefügt. Auch hier blieb offen, wie diese Zahl zustande kam.

Erklärung offen

Wieso die Todesfälle nicht schon bisher in einem der beiden Systeme erfasst worden sind, ist unklar. Weder vom Gesundheitsministerium auf Anfrage von ORF.at noch von einer sonstigen Stelle gab es dazu eine Antwort. Erst Ende März waren aus Niederösterreich mehrere hundert Todesfälle nachgemeldet worden.

„Da haben wir tatsächlich ein Problem“, bemerkte Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) am Donnerstag am Rande einer Pressekonferenz zu dem Zahlenchaos. Dieses gelte es zu beheben, das sei schon „in den Beratungen mit GECKO“ laufend Thema gewesen. Es gehe nun um die rasche Konsolidierung der Zahlen, von den einzelnen Bundesländern seien „in völlig unterschiedlichen Höhen“ Nachmeldungen gekommen. „Wir haben viele gute Facetten des Föderalismus, wir haben aber auch so etwas wie einen Zahlenföderalismus“, stellte Kogler fest.

Als Infektionsfälle wurden die Personen laut Ministerium geführt. Die Todesmeldung wurde dann aber nicht mit den Daten verknüpft. Erfolgt das nicht, werden Fälle nach einiger Zeit automatisiert als genesen eingestuft. Das dürfte auch hier in den meisten Fällen passiert sein. Die Zahl der Genesenen sank mit der Datenbereinigung um knapp 2.900.

Über ganzen Pandemieverlauf verteilt

Die nachgemeldeten Todesfälle wurden in der Todesursachenstatistik der Statistik Austria schon bisher geführt. Sie umfassen Todesfälle mit Covid-19 als Grundleiden oder als Begleiterkrankung, die aufgrund einer Meldeverzögerung noch nicht im EMS erfasst waren. Der Nachmeldeprozess erfolgt im Rahmen eines jährlichen Datenabgleiches, der vom Ministerium und der AGES in Kooperation mit der Statistik Austria im Sinne der Qualitätssicherung durchgeführt wird.

Im EMS und damit im AGES-Datenset, auf dem auch die Statistiken auf ORF.at beruhen, werden die Todesfälle dem richtigen Sterbedatum zugeordnet. Damit ist auch auf einen Blick (Zeitraum in der untenstehenden Grafik auf „Gesamt“ setzen) ersichtlich, dass sich die bisher nicht erfassten Todesfälle über den ganzen Pandemiezeitraum bis Ende 2021 verteilen – und teilweise in den Pandemiebeginn und auch in den Sommer 2020 fallen. Nach ORF.at-Berechnungen wurden an 550 Tagen Todesfälle ergänzt.

Ungleiche Verteilung über Bundesländer

Die Nachmeldungen verteilen sich allerdings nicht gleichmäßig über die neun Bundesländer. Besonders stark stieg die Zahl der Coronavirus-Toten in Tirol – um rund 30 Prozent. Einen Anstieg von rund einem Viertel gibt es im Kärnten und dem Burgenland, um ein Fünftel mehr sind es in Niederösterreich und Salzburg. Zwischen fünfzehn und sechzehn Prozent mehr Todesfälle gibt es in Wien und der Steiermark, das sind die prozentuell geringsten Anstiege durch die Nachmeldungen.

Das Problem sei, dass die Daten nicht zentral, sondern von den einzelnen Bezirkshauptmannschaften ins EMS eingetragen würden, so Statistiker Erich Neuwirth gegenüber der APA. „Die Datenqualität liegt an der Eingabe und an den Kontrollen der Eingabe.“

Statistiker Neuwirth zu den CoV-Todesfällen

Der Statistiker Erich Neuwirth spricht im Studio zu den Unterschieden der gelisteten CoV-Todesfälle im Epidemiologischen Meldesystem (EMS) im Vergleich zu den gelisteten CoV-Todesfällen bei der Statistik Austria.

Zwei unterschiedliche Datenquellen

Schon bisher war die Datenlage in den vergangenen Pandemiejahren unübersichtlich. Nach langem Hin und Her konkurrieren zwei Quellen: einerseits die Morgenmeldung der Ministerien, die sich aus den Bundeslandmeldungen speisen, und andererseits die Daten aus dem Epidemiologischen Meldesystem, die als Rohdaten morgens und von der AGES korrigiert nachmittags veröffentlicht werden. Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass laborbestätigte Fälle, Tote etc. nicht zum Meldezeitpunkt dargestellt werden, sondern eben zum Diagnose- bzw. Sterbedatum.

An und mit dem Coronavirus verstorben

Doch Differenzen zwischen den beiden Quellen gab es nicht nur wegen unterschiedlicher Einmeldezeitpunkte und Verarbeitungssysteme, sondern im Bereich der Todesfälle auch, da leicht unterschiedliche Definitionen eines Coronavirus-Todesfalles verwendet werden. Schon bisher sorgten die Todeszahlen für Unbehagen – auch weil im Zweifelsfall sehr oft nicht geklärt werden kann, ob Covid-19 die tatsächliche Todesursache war oder nur eine Nebendiagnose.

Experten verweisen darauf, dass etwa bei hochbetagten Menschen und multiplen Erkrankungen, das ist gleichzeitig die Hochrisikogruppe, schwer nachzuweisen sei, was schließlich direkt für den Tod verantwortlich war. Der vielzitierte Fall des tödlich verunglückten Motorradfahrers, der zufällig auch positiv getestet war, sollte laut WHO-Definition nicht in der Statistik landen. Allzu viele solche Fälle sollte es jedenfalls nicht geben.

Kritik der Opposition

NEOS ortet angesichts der hohen Zahl an Nachmeldungen ein neuerliches „Datenchaos des Gesundheitsministers“ und ein „völlig misslungenes Pandemiemanagement“. „Seit über zwei Jahren stolpert die Regierung planlos durch die Pandemie und hat es in Wahrheit nicht einmal geschafft, eine solide Datenbasis auf die Beine zu stellen“, meinte NEOS-Pandemiesprecher Gerald Loacker am Mittwoch zur APA.

Mehr CoV-Todesfälle als bisher gedacht

Nicht alle CoV-Todesfälle werden im Epidemiologischen Meldesystem (EMS) gemeldet. Wird eine CoV-Patientin, die auf der Intensivstation behandelt werden muss, wieder negativ getestet und stirbt aber an den Folgen der Infektion, scheint ihr Todesfall nicht im EMS auf, sondern bei den Todesursachen der Statistik Austria. Nun wurden diese Daten mit den EMS-Zahlen abgeglichen, sodass für 2020 und 2021 mehr CoV-Tote verzeichnet werden.

„Wir NEOS haben immer und immer wieder davor gewarnt, dass die Datenbanken von Sozialversicherung, Ministerium und Spitälern nicht ordentlich verknüpft werden und so wichtige Informationen verloren gehen“, betonte Loacker. Das Coronavirus werde aber bleiben, daher müsse die Bundesregierung endlich einen Weg finden, „wie unser Gesundheitssystem krisenresilient werden kann und wie wir mit dem Virus leben können, ohne Auf-Zu-Politik, ohne Kollateralschäden, ohne vertane Chancen und ohne Datenchaos“, forderte Loacker.

SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner zeigte sich „betroffen“. Sie kritisierte auf Twitter, dass die Regierung „kommentarlos“ derart viele Todesfälle nachmelde. „3.412 Schicksale. Das macht betroffen“, so Rendi-Wagner. „Man darf sich nicht wundern, wenn die Menschen nicht mehr wissen, was sie glauben können und was nicht.“

Nicht nur in Österreich ein Problem

Das Datenchaos ist kein rein österreichisches Phänomen. Auch in Deutschland wird die Inkonsistenz der Daten bemängelt, zeitweise ging man davon aus, dass auch die Inzidenzen nicht ganz korrekt sind. In Großbritannien gibt es ebenfalls zwei Zählweisen von Coronavirus-Toten und damit zwei unterschiedliche Todeszahlen.

Generell ist die Zählweise von Land zu Land verschieden und wurde mitunter im Laufe der Pandemie auch geändert. So zählte in der ersten Welle Großbritannien nur die Sterbefälle in Gesundheitseinrichtungen und Altenheimen, Belgien wiederum klassifizierte alle Verstorbenen in Pflegeheimen als Coronavirus-Tote – und führte damit die internationale Sterbequote lange an.