Ob er nicht einen Beitrag für seine „Traumsammlung“ beisteuern könne, schrieb der Surrealist Andre Breton 1936 an Sigmund Freud. Er „bedaure lebhaft“, antwortete der Psychoanalytiker dem Franzosen, aber diesen Wunsch könne er ihm leider nicht erfüllen. Zum Thema Traum wüsste er kaum etwas Neues zu sagen, behauptete der Autor des 1900 publizierten Jahrhundertbuchs „Die Traumdeutung“.
Außerdem ergäbe das Geträumte ohne Kenntnis der Umstände der Person und „ohne beigefügte Associationen“ für ihn keinen Sinn. Breton nahm den Korb hin und verwandelte ihn flugs in einen Beitrag: Er druckte einfach Freuds Absage in seiner Zeitschrift ab.
Surrealismus „divers“
„Für Freud war die Beschäftigung mit den Träumen Mittel zum Zweck, aber für die Surrealisten war sie Endzweck“, erklärte Monika Pessler, Direktorin des Sigmund Freud Museums, bei der Pressekonferenz zur neuen Ausstellung „Surreal! Vorstellung neuer Wirklichkeiten“. Während der Psychoanalytiker die Neurosen seiner Couchgäste behandeln wollte, verstanden Künstler wie Max Ernst, Salvador Dali oder Rene Magritte die Träume als Inspirationsquelle.
Rund 100 Jahre nach seinem Entstehen ist der Surrealismus in der Berggasse 19 angekommen, also an jenem Ort, ohne den es ihn vielleicht nie gegeben hätte. Egal, ob in Frankfurt, London oder Venedig, der Surrealismus wird derzeit international hochgejubelt. Das Spannende an diesem Comeback: Die Forschung erschließt neue Blickwinkel auf die Strömung, deren schmelzende Uhren und gesichtslose Hutträger schon so sattsam bekannt waren.
Frankfurt, London, New York
In der Frankfurter Schirn Kunsthalle stürmte das Publikum 2020 vor und nach dem Lockdown die Schau „Fantastische Frauen“, die bekannte und kaum bekannte Vertreterinnen der Kunstrichtung feierte. Die stets unter ihrem Wert geschlagenen Surrealistinnen sorgen auch bei der aktuellen Kunstbiennale in Venedig für Furore.
Unter dem Titel „Die Milch der Träume“, der einem Bilderbuch von Leonora Carrington (1917–2011) entlehnt ist, werden im Hauptpavillon und im Arsenale historische mit zeitgenössischen Künstlerinnen verflochten. Parallel geht das Guggenheim Museum Venedig in der exzellenten Schau „Surrealism and Magic“ dem Hang der Kunstströmung zu Übersinnlichem und Okkultismus nach.
Umfassende Recherche ging auch der Ausstellung „Surrealism Beyond Borders“ voran, die derzeit in der Londoner Tate Modern läuft. Das gemeinsam mit dem New Yorker Metropolitan Museum produzierte Ausstellungsprojekt widmet sich außereuropäischen Zentren der Stilrichtung, die 1924 in Paris mit dem „Manifest des Surrealismus“ gezündet wurde.
Grenzen des Rationalismus sprengen
In Japan, Ägypten, Mexiko, Amerika und vielen karibischen Staaten fiel die Botschaft, dass es die Grenzen des modernen Rationalismus zu sprengen gelte, auf fruchtbaren Boden. „Der Surrealismus gab jenen eine Stimme, die sich gefangen oder attackiert fühlten“, heißt es im Trailer zur Schau, die politische Dimensionen hervorstreicht.
Im Belvedere zeigt noch bis 29. Mai die liebevoll gestaltete Ausstellung „Dali – Freud. Eine Obsession“, wie der spanische Exzentriker sein Wiener Idol belagerte. Seit der Künstler 1926 „Die Traumdeutung“ gelesen hatte, wollte er deren Schöpfer kennenlernen. Aber drei Reisen nach Wien reichten nicht aus, um die Türen der Berggasse 19 für Dali zu öffnen. Als er Freud nach langen Avancen schließlich 1938 im Londoner Exil traf, reichte die Zeit gerade für ein stockendes Gespräch und einige Porträtskizzen von dem kranken Psychoanalytiker aus.
Großzügiger Sammler
Ein spätes Bildnis von Dali steht auch am Beginn der aktuellen Ausstellung im Sigmund Freud Museum. Wer die Lithografie aus der Nähe betrachtet, kann allerlei nackte Körper erkennen sowie eine Sphinx mit Totenköpfen auf der Stirn des Wiener Arztes.
Das bunte Potpourri aus einigen Gemälden und Skulpturen, vor allem aber Grafiken, Collagen und Fotografien stammt aus dem Besitz von Helmut Klewan. Ehemals Galerist in Wien und München, ist der 78-jährige Kunstaficionado heute hauptsächlich mit dem Aufarbeiten, Verleihen und Verschenken seiner großen Kollektion beschäftigt.
Im Leopold Museum hängen derzeit nicht nur wichtige Blätter in der Ausstellung „Alfred Kubin“, sondern es eröffnet am 6. Mai auch eine Schau mit Schenkungen des Sammlers. Unter dem Titel „Der Blick aus dem Rahmen“ werden Porträts von Schriftstellerinnen und Schriftstellern präsentiert, die meisten davon Papierarbeiten, etwa von Pablo Picasso, George Grosz und Oskar Kokoschka.
Übervater des Surrealismus
„Zum Surrealismus bin ich über meinen Jugendfreund Arnulf Rainer gekommen“, erzählte Klewan im Gespräch über seine Sammeltätigkeit in dieser Richtung. Schon als junger Mann hätte er alles gelesen, was dazu auf Deutsch an surrealistischen Schriften erhältlich gewesen sei.
Ausstellungshinweis
„Surreal! Vorstellung neuer Wirklichkeiten“, Sigmund Freud Museum, bis 16. Oktober 2022, mittwochs bis montags und feiertags 10.00–18.00 Uhr.
Seit jeher hat Klewan auch Vorläufer des Surrealismus verehrt, etwa den „metaphysischen“ Künstler Giorgio de Chirico. Bei Auktionen konnte der Wiener Sammler zwei Versionen der berühmten Serie „Piazza d’Italia“ erstehen – allerdings stammen sie aus den 1960er und 1970er Jahren, als der Künstler seinen größten Hit von 1913 noch unzählige Male wiederholte.
„De Chirico war der Übervater des Surrealismus“, sagte Klewan zu den Darstellungen eines menschenleeren Platzes, wo vor Arkadengängen phallische Türme und Schlöte lange Schatten werfen. Auch der Belgier Paul Delvaux blieb dem Surrealismus treu, wie seine Parade nackter Frauen in der Federzeichnung „Le Bois sacré“ von 1963 zeigt. Er könne sich keinen besseren Ausstellungsort als das Sigmund Freud Museum für seine Arbeiten vorstellen, betonte der Sammler.
Enttäuschter Fan
Aber der Psychoanalytiker selbst wurde mit dem Surrealismus zeitlebens nie warm. Wiewohl stets höflich, wand er sich in der Umarmung durch die Künstler. Breton war von seinem Besuch in Wien 1921 so enttäuscht, dass er in seinem Zeitschriftenartikel „Interview mit Professor Freud“ über Äußerlichkeiten berichtete und von einem „alten Herrn ohne Eleganz in einem ärmlichen Behandlungszimmer“ schrieb.
Trotzdem hielt der Künstler bis 1937 die Korrespondenz aufrecht und sorgte mit Publikationen in seinen Zeitschriften für die Verbreitung der psychoanalytischen Theorien. Was hätte Freud wohl dazu gesagt, dass seine Wirkungsstätte nun von den Trieb- und Traumfantasien seiner begabten Fans wimmelt? Indem er den Weg zum unterdrückten Unbewussten suchte, erschloss er – unwillentlich – der Kunst einen neuen Kosmos.