US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines
APA/AFP/Saul Loeb
US-Geheimdienste

Kein schnelles Ende im Ukraine-Krieg in Sicht

US-Geheimdienste rechnen damit, dass sich der russische Präsident Wladimir Putin auf einen längeren Krieg in der Ukraine vorbereitet. Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines warnte vor einer Eskalation des Konflikts. Eine Verhängung des Kriegsrechts durch Putin hält sie angesichts des jetzigen „Zermürbungskrieges“ für wahrscheinlich – in puncto Atomwaffen geben die Geheimdienste jedoch Entwarnung.

Russland hatte das Nachbarland am 24. Februar angegriffen. Nachdem es der russischen Armee angesichts des heftigen Widerstands der ukrainischen Streitkräfte nicht gelang, die Hauptstadt Kiew einzunehmen, konzentrieren sich die Kämpfe inzwischen auf den Süden und Osten der Ukraine.

Im Westen war zunächst befürchtet worden, dass Putin am Montag, dem Gedenktag zum Sieg über Nazi-Deutschland, den Einsatz in der Ukraine ausweiten und eine Generalmobilmachung verkünden könnte. Das geschah aber nicht. US-Geheimdienstkoordinatorin Haines sagte nun bei einer Anhörung des Senats in Washington, Putin bereite sich auf einen „langwierigen Konflikt in der Ukraine vor, bei dem er nach wie vor Ziele über den Donbas hinaus erreichen will“.

So sei der russische Präsident entschlossen, eine Landverbindung zur prorussischen Separatistenregion Transnistrien im Osten der Republik Moldau zu schaffen. Ein eventueller russischer Erfolg im Donbas würde nach Auffassung der amerikanischen Geheimdienste wahrscheinlich nicht das Ende von Russlands Krieg gegen die Ukraine bedeuten. „Wir gehen davon aus, dass sich die strategischen Ziele Putins wahrscheinlich nicht geändert haben“, so Haines. Die Verlagerung der russischen Streitkräfte in den Donbas sei wohl nur vorübergehend.

Warnung vor Eskalation des Konflikts

Haines warnte außerdem vor einer Eskalation des Konflikts. Die Ungewissheit des Kampfes, der sich zu einem Zermürbungskrieg entwickle, bedeute in Verbindung mit dem Missverhältnis von Putins Ambitionen und den militärischen Fähigkeiten Russlands einen „unvorhersehbaren und potenziell eskalierenden Kurs“ in den kommenden Monaten. „Da sowohl Russland als auch die Ukraine glauben, dass sie militärisch weiter vorankommen können, sehen wir zumindest kurzfristig keinen gangbaren Verhandlungsweg“, meinte Haines.

Russland liegt einem US-Insider zufolge mindestens zwei Wochen hinter dem eigenen Zeitplan für die Invasion der Donbas-Region. Das gelte auch für den Süden der Ukraine, sagte ein hochrangiger US-Militärvertreter, der namentlich nicht genannt werden wollte. „Der derzeitige Trend erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Präsident Putin sich drastischeren Mitteln zuwendet, einschließlich der Verhängung des Kriegsrechts, der Umorientierung der Industrieproduktion oder potenziell eskalierenden militärischen Optionen“, so die US-Geheimdienstdirektorin vor dem Streitkräfteausschuss.

Haines betonte, dass die USA immer noch der Ansicht seien, dass Moskau auch künftig eine „nukleare Rhetorik“ einsetze, um die USA und den Westen davon abzuhalten, die Unterstützung für die Ukraine zu erhöhen. „Wir gehen weiterhin davon aus, dass Präsident Putin den Einsatz von Atomwaffen wahrscheinlich nur dann genehmigen würde, wenn er eine existenzielle Bedrohung für den russischen Staat oder das russische Regime wahrnehmen würde“, sagte Haines.

US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines und DIA–Chef Scott Berrier
Reuters/Kevin Lamarque
Der US-Geheimdienst hält einen Atomangriff Russlands für unwahrscheinlich

Haines: Putin rechnet mit Lockerungen des Westens

Putin rechne auch damit, dass Russland eine größere Durchhaltekraft habe als der Westen und die Ukraine, sagte Haines, die die Arbeit der 18 US-Geheimdienste koordiniert. „Putin geht höchstwahrscheinlich davon aus, dass Russland eine größere Fähigkeit und einen größeren Willen hat als seine Gegner, Herausforderungen durchzustehen. Und er zählt wahrscheinlich darauf, dass die Entschlossenheit der USA und der EU nachlässt, während Lebensmittelknappheit, Inflation und Energiepreise sich verschlimmern.“

USA schnüren neues Hilfspaket

Die USA und EU-Staaten unterstützen die Ukraine in dem Krieg mit umfangreichen Waffenlieferungen. Der US-Kongress ist gerade dabei, ein neues Hilfspaket mit einem Umfang von knapp 40 Milliarden Dollar (38 Milliarden Euro) zu schnüren. Ein Großteil des Geldes ist für militärische Hilfe gedacht.

Biden hatte den Kongress Ende April aufgerufen, 33 Milliarden Dollar an zusätzlichen Mitteln für die Ukraine zu bewilligen, davon 20 Milliarden Dollar für Militär- und Sicherheitshilfen. Bidens Demokraten und die oppositionellen Republikaner vereinbarten nun, 6,8 Milliarden Dollar zusätzlich und damit insgesamt 39,8 Milliarden Dollar zur Verfügung zu stellen. Repräsentantenhaus und Senat müssen dem Hilfspaket noch zustimmen, was rasch geschehen dürfte.

Biden hatte die beiden Kongresskammern am Montag dazu aufgerufen, die Mittel schnell zu bewilligen, damit es keine Unterbrechung bei den Waffenlieferungen gebe. Er unterzeichnete außerdem ein Gesetz, das auf einem Programm aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges im Kampf gegen Nazi-Deutschland basiert und schnellere Waffenlieferungen an die Ukraine ermöglichen soll.