Gemüse und Früchte auf einem Markt in London
APA/AFP/Justin Tallis
Unze und Yard

Johnson will mit alten Maßen punkten

Schon mehrmals ist es angekündigt worden, nun will der britische Premier Boris Johnson aber offenbar Ernst machen: Pünktlich zum Thronjubiläum von Queen Elizabeth II. am kommenden Wochenende will Johnson laut britischen Medien einen öffentlichen Beratungsprozess dazu beginnen, wie die imperialen Einheiten Pfund, Unze und Yard künftig wieder genutzt werden könnten. Kritiker sehen einen ganz anderen Grund dafür, genau jetzt das Thema aufzuwärmen.

Seit dem Jahr 2000 galten für Großbritannien als damaliges EU-Mitglied im Handel verpflichtende Angaben etwa in Gramm und Kilogramm. Britische Händler können aber daneben auch Pfund und Unzen angeben. Den neuen Plänen zufolge, über die zunächst der „Sunday Mirror“ berichtete, sollen Händler künftig frei wählen können, was sie angeben. Ein Pfund entspricht 453 Gramm, eine Unze 28 Gramm.

Schon vor Monaten hatte die konservative Regierung bereits angekündigt, wieder die „Crown Stamp“ als korrekte Eichung auf Biergläsern sowie Sektflaschen im Pint-Format zuzulassen. Das Symbol – der „Crown Stamp“ – galt jahrhundertelang als Beleg für die korrekte Eichung der Gefäße, musste aber 2007 dem EU-einheitlichen CE-Zeichen weichen. Auch die Rückkehr anderer alter Einheiten wurde damals schon kolportiert.

Ein Pint Glas mit „Crown Stamp“
„Crown Stamp“ auf den Pint-Biergläsern

Derzeit Mischung an Maßen

Dabei gibt es derzeit schon eine Mischung der Einheiten im Alltag: Distanzen wurden auch zu EU-Zeiten stets in Meilen statt in Kilometern angegeben, Tempolimits entsprechend in Meilen pro Stunde. Milch und Bier werden in Pint (0,568 Liter) verkauft.

Der Versuch der Rückkehr zu den alten Bezeichnungen und Symbolen gilt schon seit geraumer Zeit als demonstrativer Schritt, um sich von der EU weiter abzugrenzen. EU-Regeln, die keine Rücksicht auf britische Traditionen nahmen, waren in der emotionalen Debatte über den EU-Austritt ein wichtiges Argument der Brexit-Befürworter. Allerdings könnten viele jüngere Briten mit einem Teil der alten Einheiten überhaupt nichts mehr anfangen.

Ablenkungsversuch vermutet

Die Labour Party als größte Oppositionspartei warf der Regierung einen „erbärmlichen Versuch“ vor, eine Politik der Nostalgie zu bemühen. Stattdessen solle man sich lieber um drängendere Probleme kümmern. Kritiker sahen schon in den vergangenen Monaten die Debatte als Folge dessen, dass man bedeutendere wirtschaftliche Chancen oder positive Effekte durch den Brexit bisher vergeblich suchen muss. Im Gegenteil: Es zeigte sich eindrücklich, welche Folgen etwa der Arbeitskräftemangel für die Insel hat.

Besänftigung für eigene Reihen

Beobachter sehen nun in Johnsons neuem Vorstoß einen Versuch, Kritiker in den eigenen Reihen zu besänftigen und von der rufschädigenden Debatte über den „Partygate“-Untersuchungsbericht abzubringen. Dieser hatte der Downing Street in der vergangenen Woche Führungsversagen und schwere Regelbrüche vorgeworfen.

Die britische Regierung musste am Sonntag auch den Vorwurf zurückweisen, auf eine Abschwächung des „Partygate“-Berichts der Spitzenbeamtin Sue Gray gedrängt zu haben. Die „Sunday Times“ hatte zuvor unter Berufung auf Insiderquellen berichtet, der Stabschef der Downing Street habe kurz vor der Veröffentlichung darauf hingewirkt, dass gewisse Namen und weitere Details und Nachrichten zu bestimmten Partys nicht veröffentlicht werden sollten – der Zeitung zufolge in einigen Fällen mit Erfolg.

Sittenbild aus der Downing Street

Die Beamtin soll jedoch in entscheidenden Punkten auf ihrer Version beharrt haben. „Jeder, der in Downing Street Nummer 10 gearbeitet hat, kennt Sue Gray gut genug, um zu wissen, dass das gar nicht funktionieren würde“, sagte Minister Brandon Lewis am Sonntag dem Sender Sky News. Er sei sich absolut sicher, dass kein Druck auf die Beamtin ausgeübt worden sei. Auch Downing Street selbst hatte das der Nachrichtenagentur PA zufolge zuvor bereits zurückgewiesen. Oppositionspolitiker forderten, die gesamte Kommunikation zwischen Downing Street und Gray offenzulegen.

Britische Premier Minister Boris Johnson
Reuters/James Glossop
„Partygate“ macht Johnson zu schaffen

Grays Bericht hatte die schon vor Monaten bekanntgewordenen Partys untersucht, die während der CoV-Lockdowns im britischen Regierungssitz gefeiert wurden. Gray warf den Verantwortlichen Regelbrüche und schweres Führungsversagen vor und forderte Konsequenzen. Etliche Details wie die schlechte Behandlung von Putzkräften sowie exzessiver Alkoholkonsum samt Rotweinflecken an den Wänden warfen erneut ein beschämendes Licht auf den damals in der Downing Street vorherrschenden Pandemiealltag.

Abtrünnige werden langsam mehr

Am Wochenende enthüllten zwei weitere konservative Abgeordnete, Johnson per Brief das Vertrauen entzogen zu haben. Erhält das zuständige Komitee mindestens 54 dieser Briefe, kommt es zum Misstrauensvotum. Die BBC und die Nachrichtenagentur PA berichteten über rund 20 bisher abgeschickte Briefe. Allerdings könnten weitere eingegangen sein, ohne dass das öffentlich bekanntgeworden ist.

Neue Enthüllungen könnten die Protestwelle weiter anfachen: Am Sonntagabend berichteten britische Medien, am 19. Juni 2020, also am Geburtstag Johnsons, habe in der Wohnung des Premiers in der Downing Street zur Mittagszeit ein weiteres Treffen stattgefunden, das in Grays Bericht nicht vorkommt. Geladen dazu soll Johnsons Frau Carrie haben, auch hier sei damals gegen die geltenden CoV-Regeln verstoßen worden.