Der Ukrainische Präsident Selenski
Reuters/Ukrainian Presidential Press Service
Selenskyj zu Donbas

Zwischen Zuversicht und Durchhalteparolen

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat bei seinem ersten Besuch im Osten des Landes seit Kriegsbeginn angekündigt, das Land „bis zum letzten Mann“ zu verteidigen. Nach einem Interview am Samstag, bei dem er sich skeptisch gezeigt hatte, das ganze von Russland besetzte Territorium wieder zurückerobern zu können, gab sich Selenskyj wieder kämpferisch. Doch in den umkämpften Gebieten rund um die Stadt Sjewjerodonezk wird es für die Ukraine eng – auch ein Rückzug könnte folgen.

Selenskyjs Büro veröffentlichte am Sonntag im Messengerdienst Telegram ein Video, das ihn mit einer kugelsicheren Weste in Charkiw und Umgebung zeigte. Der Staatschef kündigte an, „in Charkiw und allen anderen Städten und Dörfern, über die das Böse hereinbrach“, würden die zerstörten Häuser wieder aufgebaut.

„In diesem Krieg versuchen die Besatzer, wenigstens irgendetwas als Ergebnis herauszupressen“, so Selenskyj. „Aber sie müssten schon lange begriffen haben, dass wir unser Land bis zum letzten Mann verteidigen werden. Sie haben keine Chance. Wir werden kämpfen und wir werden in jedem Fall siegen.“ Selenskyjs Aussagen können als Zuversicht gedeutet werden – aber auch als Durchhalteparolen angesichts der schwierigen militärischen Situation im Donbas.

Lob für Soldaten

Die verbreiteten Videoaufnahmen zeigten Selenskyj dabei, wie er Soldaten auszeichnete, die zerstörte Infrastruktur in Charkiw inspizierte, aber auch von der russischen Armee zurückgelassene ausgebrannte Militärfahrzeuge besichtigte. Selenskyj dankte den Soldaten für ihren Einsatz. „Ich bin grenzenlos stolz auf unsere Verteidiger. Jeden Tag kämpfen sie unter Einsatz ihres Lebens für die Freiheit der Ukraine“, so der Präsident.

Am Vortag hatte er in einem Video für das niederländische Fernsehen gemeint: „Ich glaube nicht, dass wir unser gesamtes Territorium mit militärischen Mitteln zurückgewinnen können.“ Bei einem solchen Vorgehen würden Hunderttausende Menschen getötet.

Neue Waffen angedeutet

Am Sonntag gab sich Selenskyj wieder optimistischer: Die Ukraine nähere sich dem Punkt, an dem sie Russland technologisch und bezüglich der Angriffsmöglichkeiten überlegen ist. „Natürlich hängt viel von unseren Partnern ab und ihrer Bereitschaft, die Ukraine mit allem zu versorgen, was zum Schutz der Freiheit benötigt wird“, sagte er in einer Videobotschaft. „Ich erwarte dazu gute Nachrichten in der kommenden Woche.“ Einzelheiten nannte Selenskyj nicht. Die Lage im Donbas sei kompliziert, sagte er weiter. Die Verteidiger hielten an mehreren Orten die Stellungen, darunter in Sjewjerodonezk und Lyssytschansk.

Die russische Armee wolle Sjewjerodonezk unbedingt erobern, so Selenskyj. „Und es ist ihnen egal, wie viele Leben sie für den Versuch bezahlen müssen.“ Die Angreifer wollten ihre Fahne auf dem Verwaltungsgebäude von Sjewjerodonezk hissen, das am Boulevard der Völkerfreundschaft stehe, sagte Selenskyj. „Wie bitter dieser Name jetzt klingt.“ Die Ukraine unternehme alles, um die Offensive einzudämmen. „Es gab keinen einzigen Tag, an dem wir uns nicht bemüht haben, mehr Waffen zu finden, mehr moderne Waffen, um unser Land, unser Volk, zu schützen“, sagte der Präsident.

Kämpfe auch im Stadtzentrum

Der Feind „versucht, am nordöstlichen Stadtrand von Sjewjerodonezk Fuß zu fassen und führt Angriffsoperationen in Richtung Stadtzentrum durch“, teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht am Sonntagabend mit. Die Bodenoffensive werde dabei von Artillerie und Luftwaffe unterstützt.

Der russische Beschuss zerstörte nach Darstellung von Selenskyj die gesamte kritische Infrastruktur der Stadt. Das gelte auch für mehr als zwei Drittel der Wohngebäude, sagte er in einer Fernsehansprache. Die Einnahme von Sjewjerodonezk sei gegenwärtig das Hauptziel der russischen Truppen. Sie ist der letzte Punkt, den das ukrainische Militär in der Region Luhansk noch unter Kontrolle hält.
Neben der Stadt selbst würden auch aktive Kämpfe um die nahe gelegenen Städte Bachmut und Kurachowe geführt, so der Generalstab. „Das Hauptziel des Feindes ist es, unsere Truppen in den Gebieten Lyssytschansk und Sjewjerodonezk zu umzingeln und die wichtigsten Logistikrouten zu blockieren“, heißt es dazu im Lagebericht. Darüber hinaus bereiteten die russischen Truppen weiterhin die Querung des Flusses Siwerskyj Donez vor. Entsprechend würden die Truppen in der Region aufmunitioniert und betankt. Weiter westlich in Richtung Slowjansk sind russische Sturmversuche den ukrainischen Berichten nach abgewehrt worden.

Strategischer Rückzug denkbar

Der von Kiew ernannte Gouverneur von Luhansk, Serhij Gajdaj, hatte am Samstag nicht ausgeschlossen, dass sich die ukrainische Armee aus einigen Gebieten zurückziehen könnte, um nicht eingekesselt zu werden. Um das zu verhindern, „könnte es sogar einen Befehl an unsere Truppen zum Rückzug geben“, erklärte Gajdaj auf Telegram. Auch internationale Militärexperten hatten in den vergangenen Tagen diese Option diskutiert. Mit einer Reorganisation der Kräfte und möglicherweise neuen Waffen könnte die Ukraine zu einem späteren Zeitpunkt durchaus erfolgreich zurückschlagen, war da zu lesen.

Charkiws Geheimdienstchef von Selenskyj gefeuert

Wenige Stunden nach dem Besuch von Selenskyj waren indes in der hart umkämpften Stadt Charkiw einem Reuters-Reporter zufolge mehrere Explosionen zu hören gewesen. Über dem Nordosten der Stadt war eine schwarze Rauchwolke zu sehen. In Charkiw und Umgebung seien 2.229 Gebäude zerstört worden, sagte der ukrainische Präsident, der sich seit Beginn des Krieges am 24. Februar in der Hauptstadt Kiew aufgehalten hatte.

Zu Beginn ihres Angriffskrieges hatten die russischen Streitkräfte Charkiw beinahe täglich bombardiert. Mit der Verlegung russischer Einheiten in andere Regionen im Osten und Süden des Landes kehrte in Charkiw etwas Ruhe ein, auch wenn der Ostteil der Großstadt immer wieder beschossen wird.

Am Abend sagte Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache, der Geheimdienstchef von Charkiw sei entlassen worden. Er habe festgestellt, dass dieser sich von Beginn des russischen Angriffskriegs an nicht um die Verteidigung der Stadt gekümmert habe, „sondern nur an sich selbst dachte“. Welche Motive dahinterstanden, würden nun die Strafverfolgungsbehörden untersuchen.