Prorussische Panzer in Popasna (Ukraine)
Reuters/Alexander Ermochenko
Sjewjerodonezk

Schlacht mit unklaren Konsequenzen

Seit Tagen konzentrieren sich die Kämpfe im Donbas nun schon auf die Stadt Sjewjerodonezk. Und Russland konzentriert offenbar all seine Kräfte, um die Stadt einzunehmen. Die ukrainischen Truppen standen dabei zuletzt schwer unter Druck. Doch Russland verzichtete bisher darauf, die ukrainischen Verbände im größeren Stil einzukesseln. Was das heißt und was die Folgen sein könnten, darüber gehen bei Militärexperten die Meinungen auseinander.

Sjewjerodonezk steht schon seit rund zwei Wochen unter schwerem Beschuss. 90 Prozent der Häuser seien beschädigt, heißt es von der ukrainischen Seite. Von den ursprünglich mehr als 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern halten sich nur noch geschätzte zehn Prozent in der Stadt auf. Doch warum Russland die Stadt offenbar unbedingt einnehmen mag, ist unklar.

Strategisch war die Einnahme des Ortes Lyman, eines Bahnknotenpunkts, vor einigen Tagen wohl wichtiger. Möglicherweise geht es einmal mehr um die symbolische Bedeutung: Sjewjerodonezk ist die größte Stadt im Donbas, die nicht unter russischer Kontrolle steht.

Große Einkesselungsversuche gestoppt

Zu Beginn der russischen Offensive im Donbas hatten Beobachter damit gerechnet, Russland könnte im großen Stil versuchen, die ukrainischen Truppen einzukesseln – mit Vorstößen von Isjum Richtung Süden und von Donezk Richtung Norden. Selbst wenn das der Plan gewesen sein sollte, musste er alsbald aufgegeben werden. Vergangene Woche sah es dann so aus, als ob ein ähnlicher Versuch in deutlich kleinerem Rahmen Erfolg haben könnte.

Bei Popasna gelang den russischen Truppen ein Durchbruch und damit einige Kilometer Gebietsgewinn Richtung Norden und Nordwesten. Von Lyman hätten Vorstöße Richtung Süden die ukrainischen Truppen dann im größeren Stil eingekesselt. Zudem wurde die letzte große Verbindungsstraße aus Sjewjerodonezk, nämlich jene nach Bachmut, unter Beschuss genommen. Doch seit einigen Tagen sind all diese Vorstöße mehr oder weniger zum Erliegen gekommen. Das Hauptaugenmerk liegt, so der US-Thinktank Institute for the Study of War, auf der Einnahme von Sjewjerodonezk.

Karte zeigt umkämpfte Gebiete im Donbas
Grafik: ORF.at; Quelle: ISW/BBC

Russland nun vorsichtiger?

Phillips Payson O’Brien, Professor für Militärstrategie an der schottischen Universität St. Andrews, verweist auf Twitter darauf, dass die Ukraine zuletzt weniger russische Panzerfahrzeuge als zerstört gemeldet hat.

Das könnte zwei Ursachen haben, so der Experte: Entweder die ukrainische Armee sei tatsächlich stark geschwächt, oder Russland würde bei den Vorstößen vorsichtiger, weil man das schwindende Kriegsgerät nicht leichtfertig aufs Spiel setzen wolle. Russland setzt im Krieg bisher vor allem auf Artilleriebeschuss – so auch nun in Sjewjerodonezk.

Russland würde eindeutig alles daran setzen, „diesen kleinen Teil des Donbas zu erobern“, so O’Brien. Die Frage sei am Ende aber, ob sich der Aufwand für sie lohne.

Aus Fehlern gelernt

Die russische Armee habe jedenfalls aus ihren Fehlern gelernt, schreibt der australische Ex-General und Militärexperte Mick Ryan. Man würde sich jetzt klare und erreichbare Ziele stecken, statt an mehreren Fronten gleichzeitig Entscheidungen zu suchen. Zudem würde die Unterstützung durch die Luftwaffe jetzt besser funktionieren.

Auch die Koordination der Bodentruppen sei verbessert worden und der Nachschub – zuvor die Achillesferse der Russen – werde jetzt besser geschützt. Ryan ist aber nicht sicher, ob sich diese Fortschritte auch längerfristig niederschlagen werden. Zu viele Fragen seien dabei offen – vor allem die der ukrainischen Verteidigungskapazitäten. Und offen sei auch, wie lange Russland eine solche Intensität durchhalten könne.

Sollte Sjewjerodonezk – und die Nachbarstadt Lyssytschansk – tatsächlich irgendwann von Russland ganz eingenommen werden, würden sich die Kämpfe wohl weiter in den Westen verlagern: Der ukrainische Generalstab rechnet mit einem groß angelegten Angriff auf den Raum Slowjansk, das Zentrum der ukrainischen Verteidigungskräfte im Donbas. Der Raum Slowjansk-Kramatorsk ist der größte Ballungsraum im Donbas, der noch unter Kontrolle Kiews steht. Dass Russland schon vor der Einnahme von Sjewjerodonezk die Offensive startet, halten Militärexperten für unwahrscheinlich.

Hohe Verluste für die Ukraine

Feststeht, dass die ukrainische Armee in den vergangenen Wochen große Verluste erlitten hat. Von bis zu 100 gefallenen Soldaten am Tag war von offizieller Seite die Rede. Insbesondere die russischen Mehrfachraketenwerfer machten der ukrainischen Armee zu schaffen, kein Wunder, dass lautstark vom Westen ebensolche Waffensysteme eingefordert wurden.

Die Bitte wurde erhört: Die USA kündigten entsprechende Lieferungen an. Offen ist freilich, wann diese eintreffen und einsatzbereit sind. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte zuletzt verklausuliert an, seine Truppen könnten schon demnächst auf neues Militärgerät zurückgreifen – gemeint waren da aber wohl andere Waffensysteme.

Der auf Russland spezialisierte US-Militärexperte Michael Kofman meinte zuletzt, es sei zu früh, um Vorhersagen über den Verlauf der Schlacht um den Donbas zu treffen. „Kurzfristig mag die Ukraine Gebiete verlieren, aber Russland hat große Probleme, seine militärischen Anstrengungen langfristig aufrechtzuerhalten oder seine Gewinne zu halten. Der Krieg könnte sich in die Länge ziehen.“

Gegenoffensive bei Cherson

Mit der Konzentration der Kräfte im Donbas wird Russland aber auch anfälliger für Gegenoffensiven in anderen Regionen: So startete die Ukraine zuletzt Angriffe in der Region rund um die von Russland besetzte Stadt Cherson. Der US-Thinktank Institute for the Study of War erwartet dort keine substanziellen Rückeroberungen, vielmehr ziele man „wahrscheinlich darauf ab, die russischen Bemühungen um die Errichtung starker Verteidigungspositionen“ zu stören und dazu zu zwingen, Verstärkung in die Region zu verlegen.

Die Region wird vor allem von eher schlecht ausgerüsteten Reservisten der russischen Armee und der prorussischen Separatisten gehalten – teils mit veraltetem Gerät. So wird der über 50 Jahre alte Panzer T-62 dort eingesetzt. Die Ukraine wird Cherson, die erste von Russland im Zuge des Krieges eroberte Stadt, aber wohl auch nicht zur Ruhe kommen lassen, nachdem spekuliert wird, Moskau könnte dort ein Referendum über einen Beitrittsantrag zu Russland abhalten.